Homage an den Makel

Happy Birthday Auto-Tune! Wir gratulieren zu zwanzig Jahren Echtzeit-Klangmanipulation. Der Effekt kam 1998 auf den Markt und war dank dem Song „Believe“ von Cher noch im selben Jahr in aller Ohren.

Ich bin alt. Als ich mit 6 Jahren zum ersten Mal in einem Tonstudio stand, wussten wir noch nichts von diesem Photoshop-Filter für Stimmen. Wenn die Tonhöhe zeitgleich mit der Konzentration von uns Dreikäsehochs sank, sangen wir die Parts nochmals und nochmals ein, bis der Chef hinter der Glasscheibe es für gut genug befand.

Zu schön, um wahr zu sein

Die Software zur automatischen Tonhöhenkorrektur wurde vom Autor und DJ Jace Clayton in seinem Buch „Uproot. Travels in 21st-Century Music and Digital Culture“ als wichtigstes Musikinstrument des 21. Jahrhunderts bezeichnet. Unsere Ohren sind auf exakt gepitchten Sound geeicht. Das wird mir täglich für mindestens 20 Minuten sehr schmerzlich bewusst. (Meine Tochter spielt im zweiten Jahr Violine.)

Die Tonhöhe in der Popmusik ist nicht das einzige, was auf einen exakten Standard getrimmt wird. Das Streben nach Perfektion hat überall Hochkonjunktur und scheint Volkssport Nr. 1 zu sein. Darstellungen von idealen Lebenskonzepten,  optimal proportionierten Körpern, lupenreinem Sound und symmetrischen Gesichtern waren wohl noch nie so omnipräsent.

Das Ungefähre

Vor wenigen Monaten erst hab ich ein kreatives Projekt für einen Event umgesetzt. Weil ich schlecht geplant habe und deshalb unter Zeitdruck stand, lag der Gang zum Profi für die Umsetzung nicht mehr drin. Mir blieb nur der analoge Weg: Selber Hand anlegen mit Karton, Bleistift, Cutter, Stichsäge und Farbroller. Die Farbe floss unter die Schablone und geplant scharfe Linien wurden zu ungefähren Verläufen. Ich trat zwei Schritte zurück und sah mir das Ergebnis an: Irgendwie schlampig, ein riesen Gebastel das Ganze! Gibt mir bitte mal jemand einen 3D Drucker? Oder sonst eine Möglichkeit, das perfekt hinzubekommen? Die Zeit zwang mich, es so zu belassen wie es war. Mangelhaft. Nicht für die Augen der Besucher gemacht, die auf auto-getunte Insta-Optik eingestellt sind.

Ein paar Wochen später las ich ein Gedicht vom Kunsthistoriker Stephan Tschudi. Obwohl er bereits 2007 verstorben ist, herrscht kein Zweifel daran, dass er diese Zeilen extra für mich und diesen Moment geschrieben hat.

Ich hasse
Die schnurgerade Linie
Die schmutzabweisende Oberfläche
Den spiegelblanken Tag

Echt ist das neue Schön

Kein Trend bleibt bekanntlich ohne Gegentrend. Kürzlich las ich in einer Studie, dass in der Flut von fehlerfreien Bildern „Echtheit“ zum Herausstellungsmerkmal wird. Nicht wenige haben anscheinend an der öden Makellosigkeit das Interesse verloren, ihre Faszination gilt dem Echten. Der Makel wird zum erwünschten Beweis für die Echtheit und Authentizität zum Wort der Stunde.

Da liege ich ja voll im Trend mit meinen analog fabrizierten Nichtlinien.

Mit meinen manchmal holprigen Tagen.

Ich will nichts Aalglattes produzieren. Also lerne ich das Gebastel in meinen Projekten und Tagen zu mögen. Es ist Zeuge vom Zittern, Schwitzen, den Tränen und der Leidenschaft. Alles voller Unebenheiten. Und genau die sind der Beweis, dass es echt ist, mein Leben.

 

 

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