Ich habe einen Freund. Und den mag ich eigentlich nicht. Unglücklicherweise kommt er ziemlich oft zu Besuch. Konflikt also vorprogrammiert. Denn wie sagst du jemandem, der sich bei dir gut aufgehoben fühlt, dass du ihn nicht mehr sehen möchtest… kannst… willst? Schwierig, schwierig. Manchmal aber müssen wir im Leben genau diese Konversationen führen. In seinem Fall sowieso.
Ich habe ihn noch gar nicht vorgestellt. Gut möglich, dass er auch bei dir herumlungert. Auf den ersten Moment ist er auch ein ziemlich cooler Typ. Sieht ein bisschen aus wie ein Superheld und hat entsprechend auch einen Namen wie einer: Der Prokrastinator! Doch seine einzige Superkraft, sein einziger Schub, ist der Aufschub und der ist auf lange Sicht ziemlich kontraproduktiv.
Prokrastinieren kommt vom Lateinischen und setzt sich zusammen aus pro(für) und crastinum(Morgen). Spätestens hier läuten wahrscheinlich bei fast allen von uns die Glocken: «Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.» Wie ein fettes, von all den eben erst ermordeten To-dos noch bluttriefendes Damoklesschwert hängt dieses Credo in der westlichen Welt über unseren Köpfen und klagt uns an. Wer gibt in der heutigen Zeit schon gerne zu, dass er prokrastiniert?
Wir sind von Wirtschaft und Gesellschaft hochgezüchtet auf Produktivität und Effizienz. Und selbst die Sozialen Medien – obwohl selber grosse Mitverursacher der Prokrastination – giessen Wasser auf die Mühlen der Präkrastinierer (das sind die sich scheinbar in der Überzahl befindenden Gegner der Prokrastination, die alles am liebsten schon vorgestern erledigt hätten). Nebst «viel», «jetzt» und «sofort» muss nämlich alles, was erledigt wird, noch dokumentiert werden und obendrein «easy» erscheinen.
Ja, unsere To-do-Wut ist oft schulmeisterlich und undifferenziert. An dieser Stelle sei erwähnt, dass mein Freund, der Prokrastinator, eigentlich auch seine guten Seiten hätte. Immerhin hat er erkannt, dass Freude ein Faktor ist, der das Sein und Tun schöner macht. Oder dass gewisse Dinge eben Zeit brauchen, bis sie reif sind. Oder (Achtung, dieser Punkt stiehlt allen Taskwütigen schier die Existenzgrundlage!) dass sich gewisse Probleme sogar von alleine lösen, wenn man eine Nacht drüber schläft.
Das Problem des allseits verteufelten Prokrastinators ist lediglich, dass er weder Geduld noch Ausdauer hat. Beides sind jedoch essentielle Grundeigenschaften insbesondere für uns Kreative, wenn wir auf lange Sicht in der Lage sein wollen in Tat und Wahrheit das zu tun, was sich unser kreative Geist einmal in der Theorie ausgedacht hat. Wie die Präkrastinierer will auch der Prokrastinierer seinen Erfolg (in seiner Sprache heisst das meist Spass) sofort. Deshalb sucht er nach Ablenkung, die keine Anstrengung braucht (E-Mails checken, auf Social Media verweilen, Essen suchen oder machen) oder erledigt zuerst alle anderen kleinen Tasks, die ihm in den Sinn kommen (aufräumen, Listen schreiben, anderen helfen).
Es lassen sich gewisse Muster erkennen, wenn es ums Prokrastinieren geht: Wir vermeiden entweder, weil wir Angst haben zu versagen (der Task ist zu gross, zu schwer oder zu unangenehm), oder weil wir das Gefühl haben, eine Art Kick in Form von Druck zu brauchen, um in die Gänge zu kommen. Beiden Formen liegt zugrunde, dass wir die erfolgreiche Bewältigung einer Aufgabe mit unserem Selbstwert verwechseln; dass wir uns also «gut fühlen müssen», um etwas erledigen zu können. Um dieses Bedürfnis zu stillen, suchen wir schliesslich nach schnellen und scheinbar einfachen Belohnungen und Ablenkungen. Auf Dauer führt aber gemäss der Wissenschaft genau das zum Gegenteil, nämlich dass wir uns noch mehr erschöpfen, deprimieren und isolieren, weil uns die Folgen unseres Versäumens umso härter treffen.*
Wenn auch bei dir der Prokrastinator zu häufig auf der Couch sitzt und deinen Gefühlshaushalt «zunderobsi» bringt, dann lohnt es sich, mit ihm ein ernstes Gespräch zu führen und deinen Freundeskreis zu erweitern. Wie der Blogger Tim Urban, ein selbsternannter Meister der Prokrastination, in seinem TED-Talk treffend formuliert, mag der Prokrastinator einige gemeinsame Bekannte wie zum Beispiel die Panik (sie kommt oft vor Deadlines zu Besuch) nicht allzu sehr.
In meinem Fall habe ich einen guten alten Freund wieder getroffen, den Fokus. Er und der Prokrastinator haben das Heu auch nicht wirklich auf derselben Bühne. Fokus hilft mir in meiner Arbeit als Visionär und Netzwerker, mir weniger vorzunehmen, weniger Baustellen gleichzeitig zu haben, öfters mal Nein zu sagen oder mit meiner ausgeprägten Helferenergie nicht gleich allen rundherum zu Hilfe zu eilen, weil ich doch ach so ein guter Kerli bin.
Über die Festtage, den einzigen paar Tagen im Jahr, in denen der Prokrastinator fast schon offiziell in unseren Wohnzimmern geduldet ist, habe ich mit ihm ein paar ernste Worte gewechselt. Er konnte mir ja nicht davonlaufen. Ich konnte ihm Danke sagen für seine positiven Ansätze aber dennoch klar machen, dass ab sofort wieder andere für den Ämtliplan im Haus zuständig sind. Und zwar ab sofort… also morgen… naja, irgendwann in nächster Zeit mal. 😉
PS: Hier gibt’s 50 praktische Tipps gegen das Prokrastinieren. Hast du was gegen Prokrastinierer? Oder leidest du unter extremem Prokrastinieren? Hast du Tipps zum Aussteigen oder eine Story zum Thema? Was ist schlimmer: Aufschieberitis oder Sofort-Erledigeritis? Schreibe mir deine Meinung an jschmidt@centralmusic.net.
* Eine umfassende Studie von Prof. Dr. Manfred Beutel von der Uni Mainz gibt’s hier nachzulesen.