Copy & paste – Segen & Fluch

Den Segen des Kopierens und Einfügens habe ich schon früh entdeckt. Eine wunderbare Möglichkeit, um in der Mittelschule mit minimalem Aufwand Arbeiten zu schreiben. Cmd + C, cmd + V, rasch noch einige Sätze abändern und ein paar Fehler einbauen, so dass es intelligent tönt und trotzdem von einer Schülerin sein könnte, und fertig ist das Meisterwerk.

Den Fluch der Schnellfunktion habe ich erst vor wenigen Tagen wieder mal erlebt. Wollte ein paar (ok ziemlich viel) Leute mit persönlichen Worten per WhatsApp zu einem Anlass einladen. Versteht sich von selbst, dass ich, trotz super persönlichem Ton und vermeintlich individuell zugeschnittenem Inhalt, die Sätze einfach copy & pastete. Und zagg! Schon sandte ich dem Christian die «Hey Salome!»-Variante. Huch! (kurzer Atemstocker) Nehme jetzt mal an, ich konnte es mit «Nachricht löschen» und meinem «Würde mich riesig freuen, wenn du, CHRISTIAN, dabei sein würdest.» nicht wieder gut machen.

Wir wollen alle eine Special Edition sein. Was ganz Besonderes und vor allen Dingen eine limitierte Ausgabe. Alles, nur kein Mensch von der Stange.

Das zeigt sich in allerlei unterschiedlichen Auswüchsen. Hauptkriterium für die Vornamen unserer Kinder ist, dass noch niemand zuvor die wie zufällig aneinander gereihte Buchstabenabfolge gehört hat. Wenn doch, gibt’s ja zum Glück noch den Accent grave, aigu oder circonflexe, um uns von den anderen zu unterscheiden. In der Kleiderwahl gehen wir total unabhängige Secondhand-Wege, um dann doch auszusehen, wie alle anderen. Wir finden unsere eigene künstlerische Sprache, machen uns auf die Suche nach dem extravaganten Sound und am Ende tönt alles zum Verwechseln gleich. Wir bilden uns eigenständige Meinungen aber reposten dann doch alle anderen Stimmen. Wir richten unsere Lebensräume super fancy und unserer Persönlichkeit entsprechend ein, schauen uns als Inspiration dafür aber dieselben Bilder auf denselben Plattformen an. Und von all dem machen wir Fotos, die wir mit denselben Filtern bearbeiten, damit sie so daher kommen, wie sie eben daher kommen müssen. Wir wollen alle gegen den Strom schwimmen und liegen damit voll im Mainstream. Wir sind Klone, die eigentlich keine sein wollen.

Ganz grosser Vorteil unserer Kopiererei ist ja nicht nur der Zeitgewinn (siehe meine WhatsApp-Effizienz), sondern die Lernkurve. Eigentlich ist dumm, wer nicht kopiert, denn schneller lernen als durch Nachahmung, geht nicht. Erst letzte Woche habe ich Jeremy Riddle (Songwriter, Speaker und Worship Leader) in Birmingham sagen gehört:

Imitation is how we grow
– and how we get lost.

Amen dazu! Vorlagen sind in jeder Hinsicht ein guter Start und bringen uns schnell auf ein hohes Niveau. Wenn wir sie aber zu 100% übernehmen, sind wir nur ein Echo. Wir plappern nach, was in der Welt da draussen schon zig Fach geschrieben, gesungen oder performt wurde.  Sei kein Vorlagen-Kopierer, sei ein Prinzipien-Sammler! Wenn dir was begegnet, dass du als Resultat anstrebst, dann versuche, das Muster und die Strategien dahinter zu erkennen. Aber wende sie in deiner eigenen Sprache an, mit viel Mut auch mal alleine dazustehen. Sind wir bereit für die Diversität, die das hervorbringen würde? Sind unsere Augen und Ohren und der Rest unserer Sinne bereit für unser Ureigenes und das der anderen? Oder ist uns die Uniformität eigentlich doch viel lieber?

Zum Weiterdenken
Kunstprojekt des Fotografen Ari Versluis und des Fallanalytikers Ellie Uyttenbroek: exactitudes.com