Vor ein paar Monaten – ich präzisiere: Am 26. September 2019 – hatte ich eine dieser Offenbarungen. So eine Anti-Mondlandungs-Erfahrung: klein für die Menschheit, umso grösser für mich selbst. Na, du weisst schon. So ein Moment, dessen Bedeutung dir bis dahin (wenn überhaupt) nur aus Erzählungen anderer bekannt war. Einer dieser Momente, die Theorie zu Praxis werden lassen und dir innerlich spürbar ein Licht aufgeht. Dieses Licht leuchtet angesichts unserer Lage der letzten Stunden und Tage gerade wieder auf.
Zusammen mit unseren vier Kids tanzten und grölten meine Frau und ich wild durch unser Wohnzimmer. Ich präzisiere: Vor allem meine Frau und die Kinder tanzten. Meine Frau, weil sie es gut kann und meine Kinder, weil sie keine Hemmungen haben. Ich alberte ein bisschen zwischen meinen tanzenden Derwischen rum und trug mit meinen spastisch anmutenden Zuckungen zur allgemeinen Erheiterung bei. Wir machen das ab und zu. Einfach, weils Spass macht und gut tut, gemeinsam das Leben zu feiern. Soweit unser Ansatz.
An diesem Abend jedoch spürte ich plötzlich eine heilsame Freiheit beim Singen und Tanzen. Eine, die sich vielleicht deshalb einstellte, weil ich just an jenem Tag wieder einmal richtig ernüchtert darüber war, wie sehr sich Menschen auf den sozialen Plattformen nicht zuhören können. Oder wollen. Oder beides zusammen. Vielleicht erlebte ich auch einfach den ganz natürlichen physischen Effekt, der eintritt, wenn man sich einer Tätigkeit ganz und gar hingibt (Stichwort: Flowtheorie). Oder ich hatte das, was die Sufis als spirituelle Erfahrung während des Tanzens bezeichnen würden.
Ganz egal, was der Grund, die Vorgeschichte meiner Erfahrung war: Das Tanzen und Singen befreite mich. Ich spürte einen kurzen Moment lang nichts anderes als Glückseligkeit. Ein perfekter Moment sozusagen. Er mündete in einen Song, den ich noch am selben Tag schrieb, deshalb weiss ich das Datum noch.
Es ist meine ganz persönliche Erfahrung dessen, was Expertinnen und Experten längst behaupten. Ich präzisiere: Sie sagen, wenn man singt, ist es dem Gehirn unmöglich, Angst zu produzieren. Angeblich werden zum Beispiel beim Singen im Chor gar unsere Herzfrequenzen getaktet und stabilisiert. Auch unsere Psyche profitiert, wie Forschungen mehrfach bewiesen haben: Singen fördert die Produktion von stimmungserhellenden Hormonen wie etwa Serotonin und gleichzeitig bauen sich Stresshormone wie etwa Cortisol ab.
Das alles ist Theorie. In der Praxis bewiesen wird sie aktuell von Hunderten von Menschen in Italien, Spanien, Israel und ganz bestimmt noch an ganz vielen anderen Orten der Welt. Claude Cueni, ein Schweizer Schriftsteller, der wegen einer Immunschwäche seit 10 Jahren Quarantäne erlebt, wurde in den letzten Tagen interviewt und gefragt, wie man diesen Zustand am besten aushält. Zunächst sagte er: «Man soll nicht auf Dinge fokussieren, die man nicht mehr tun kann, sondern darauf, was man tun kann. Es ist wie bei einer Speisekarte: Man findet dort keine Sachen, die man nicht bestellen kann.» Dann konkretisierte er, was denn auf seiner persönlichen Speisekarte stehe: «Ich sitze auf dem Sofa und singe Lieder. (…) Man kann nicht gleichzeitig singen und sich Sorgen machen.»
Ich fordere dich da draussen hiermit von ganzem Herzen auf: Wenn dir in den nächsten Tagen die Decke droht auf den Kopf zu fallen, wenn du dich einsam fühlen solltest, wenn dir einfach danach ist oder du deine ganz persönliche Freiheit in vollen Zügen erleben möchtest, dann … singe! Sing dir die Seele aus dem Leib. Ob du dabei das Fenster geöffnet oder geschlossen hast, interessiert mich nicht. Hauptsache du singst. Denn du kannst nicht singen und dich gleichzeitig sorgen oder dich über die Welt aufregen.
Hoffentlich haben wir das ein Stücklein mehr verinnerlicht, wenn diese ganze Geschichte hier vorüber ist und wir wieder in unserem Alltag landen. Ich würde es der Krise danken.–