Eigentlich hätten wir ja jetzt Zeit. Zeit, die wir sonst immer vermissen, wenn wir in der Weltherumstressen. Aber waren in einer früheren Epoche, das heisst vor etwa fünfundzwanzig Jahren, die vier Wände wirklich noch vier Wände und das Fenster der einzige Ausblick auf die Welt draussen, so gibt es auf unserem Schreibtisch längst dieses andere Fenster, das sich mit einem Mausklick auf das Universum hin öffnet, in dem wir ebenso rastlos umherstressen können wie noch vor ein paar Wochen auf den Strassen unserer Stadt. Irgendwie scheint sich die Zeit nun doch nicht zu dehnen.
Klar: Der Wechsel vom mobilen in den Lockdown-Online-Modus ist zusätzlich zeitaufwändig und vor allem für Familien mit schulpflichtigen Kindern herausfordernd. Dazu kommen die Arbeitsstunden am Computer, die Besprechungen mit Arbeitskollegen und nach Feierabend vielleicht noch der eine oder andere Chat. Und sehr gut: Endlich kann man sich im Chatroom ohne organisatorischen Aufwand mit jenen sonst vielbeschäftigten Menschen treffen, die man in den letzten 35 Jahren nur mühsam zur selben Stunde an denselben Ort versammeln konnte.
Die weltweite Vernetzung greift seit ein paar Tagen tiefer in den Alltag ein als je zuvor. In meinem Fall meldeten sich per Facebook Verwandte aus Amerika, die ich bisher nur aus Erzählungen der Grosseltern kannte, und denen ich natürlich ein paar begeisterte Zeilen zurückschrieb, jederzeit bereit, die Familiengeschichte der letzten Jahrzehnte vor ihnen auszubreiten. Das alles hat aber das Potential zu einer Overkill-Erfahrung, die die Wochen vor dem Coronavirus fast als gemächliches Dahinvegetieren erscheinen lassen. Und sah man sich zu Beginn des Lockdowns noch auf eine lang ersehnte Zeitinsel zu schwimmen, auf der Musse und künstlerische Inspiration winkten, so ist diese längst wieder im Strudel der Zeit verschwunden. Dazu kommt möglicherweise eine innere Unruhe, die sich mit gar nicht so diffusen Ängsten und Sorgen und mit dem zunehmenden Genervt-Sein über die plötzlich so nahe gerückten Nächsten zu einem seltsamen Seelenmix zusammenbraut.
Liest man dazu die Zeitungsmeldungen oder schaltet die Tagesschau ein, so merkt man, dass Dürrenmatts Erzählung «Der Tunnel» von 1952 irgendwie prophetisch war: Dieser kurze Tunnel nach Burgdorf ist erstaunlich lang und wird immer länger und steiler, der Zug immer schneller. Am Ende der Erzählung, die wir vielleicht noch aus unserer Schulzeit kennen, heisst es seltsamerweise: «Was sollen wir tun? … Nichts … Gott liess uns fallen und so stürzen wir denn auf ihn zu.» Ein düsterer Schluss, der aber einen Funken christlicher Hoffnung enthält wie viele der frühen Texte des Pfarrersohns aus Konolfingen. Was kann uns Besseres geschehen als auf Gott zuzustürzen, wenn es denn ein Sturz sein muss?
Seit der 1980 revidierten Ausgabe des «Tunnels» lautet der Schluss allerdings: «Was sollen wir tun … Nichts». Punkt. Der letzte Satz mit Gott wie auch alle anderen biblischen Bezüge im «Tunnel» sind gestrichen. Irgendwie symptomatisch. Es ist ja offensichtlich, dass nicht nur Dürrenmatt, sondern auch die Schweiz Gott seit der Nachkriegszeit immer mehr aus dem Vokabular oder zumindest aus dem aktiven Wortschatz gestrichen hat. Vielleicht will uns Gott inmitten dieser (an Kriegszeiten erinnernde Zustände) sagen, dass wir zum Erkenntnis- und Glaubensstand zumindest des jungen Dürrenmatts zurückkehren sollten.
Ich selber möchte es lieber als ein Hineinfallen denn als ein katastrophales Stürzen in Gottes Hände verstehen. Was sollen wir Anderes und was können wir eigentlich Besseres tun als uns jetzt in Gottes Hände stürzen, fallen oder gleiten zu lassen? Dies mitsamt unserer Overkill-Erfahrung, mitsamt unserem Seelenmix und unserer Hilflosigkeit. Auch mitsamt unserer ganz persönlichen Sehnsucht nach gedehnter, friedvoller, inspirierter und künstlerisch ergiebiger Zeit.
Ein wunderbar schlichter Satz – die einzigen Worte, die Paulus aus dem Munde des Auferstandenen hört – kann uns bei diesem freien Fall begleiten: «Lass dir an meiner Gnade genügen. Denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.» In die Gnade Gottes, in seine Vergebung und Liebe dürfen wir uns fallen lassen. Da ist auch einmal Nichts-Tun ohne schlechtes Gewissen angesagt. Dann können wir auch irgendwann fragen: «Was möchtest du uns Künstlerinnen und Künstler in dieser Situation sagen? Was sollen wir tun und was sollen wir lassen? Hilf uns, auf dich zu hören!»