Einfach mal nichts tun

Die Wände meiner Seele sind aus Seidenpapier. Durchlässig wie sonst was und ständig im Begriff zu reissen. Als ob ich im herrschenden Ausnahmezustand plötzlich nicht mehr entscheiden könnte, welche Schreie und Parolen meine Ohren hören. Welcher Geruch nach Abgrund und Apokalypse meine Nase atmet. Welcher Wind und welche Meinungen mir ins Gesicht wehen. Das Seidenpapierproblem löse ich durch Selbstschutz. Momentan indem ich mich zur Pessimistin degradiere und abwechselnd der Gleichgültigkeit oder dem Zynismus Raum gebe. Zugegeben wohl nicht das Allerschlauste. Ich suche also nach Alternativen. Und wie so oft ahne ich bereits, in welche Richtung der göttliche Fingerzeig geht.

In der chinesischen Sprache gibt es bekanntlich keine Buchstaben, sondern Zeichen. Ich habe mal gelesen, dass das chinesische Wort für «beschäftigt» aus zwei Zeichen besteht. Dem für «Herz» und dem für «Tod». Wie bezeichnend. Wer ständig beschäftigt ist, zahlt einen hohen Preis, er tötet auf lange Sicht sein eigenes Herz ab. So zumindest meine laienhaft sprachwissenschaftliche Interpretation. Obwohl quasi zu Hause eingesperrt, scheinen wir beschäftigter denn je oder lenken uns einfach meisterlich vom Nichtstun ab. Jetzt alles auf den Kopf stellen, digitale Projekte aus dem Boden stampfen, neue Gewohnheiten in Stein meisseln und den Mund dabei ordentlich voll nehmen. Krisen-Aktivismus olé!

Um im kreativen Prozess einen Schritt weiter zu kommen, ist es oft nötig, räumlich oder zeitlich Abstand zu gewinnen zu dem, was bereits entstanden ist. Die Künstlerin tritt während des Malens einen Schritt zurück, um ihr Werk in einem grösseren Zusammenhang zu betrachten, der Musiker lässt seinen Song über Nacht liegen, um ihn am nächsten Tag mit «neuen Ohren zu hören». Das einfache Prinzip dahinter: Distanz hilft uns, die Dinge wahrzunehmen, wie sie sind, um dann zu entscheiden, was noch getan werden muss. Wenn ich ständig beschäftigt und zu nah dran bin, fehlt mir dieser Blick. Heisst für mich deshalb zur Zeit, öfter mal nichts tun. Nichtstun eröffnet einen Raum, ist ein Versteck für Gedanken, die vor sich hin plätschern oder Ideen, die aufploppen.

Wer sich die Biografien der kreativsten Gestalten der Geschichte vor Augen führt, steht sofort vor einem Paradox: Sie richteten ihre Leben ganz auf ihr Schaffen aus, nicht aber ihre Tage. Jean-Jacques Rousseau flogen die Ideen beim Spazierengehen zu, Charles Dickens ging tagsüber gern mit seinen Hunden aus, Winston Churchill gönnte sich mitten am Tag ein Nickerchen. Ihre Kreativität und Produktivität war anscheinend nicht das Resultat endloser Schufterei. Neurologen sagen schon längst, dass wir öfter nichts tun sollten, um unserem präfrontalen Cortex einen Gefallen zu tun. Kommen keine Reize, beschäftigt sich das Hirn mit sich selber, kramt Erinnerungen hervor, schafft Verknüpfungen.

Und sorry an alle Selbstoptimierer: Wenn wir Nichtstun sofort wieder einem Nützlichkeitsgedanke unterordnen und uns davon mehr Schaffenskraft und geniale Ideen erhoffen, uns das Nichtstun etwas «bringen» soll, verhöhnen wir uns doch selbst. Nichtstun nimmt mich vielmehr an der Hand und führt mich ein paar Meter weg von mir selbst, dem was ich ständig tue und vom Marktgeschrei der anderen. Vielleicht führt es mich zu einem verborgenen Ort, an dem grosse Ideen entstehen. Vielleicht aber auch nicht und mein Hirn bekommt einfach eine wohlverdiente Pause oder mein Herz wird vor dem langsamen Absterben verschont. Ist doch auch was. Als Windschutz für meine Seidenpapierseelenwände ist Nichtstun perfekt.