Die Frage nach dem persönlichen Einkommen fühlt sich oft indiskreter an, als die nach dem Alter oder der Handynummer. «Über Geld spricht man nicht!» – Futter für unser Phrasenschwein. Wie hoch ist dein Gehalt, deine Gage? Wie viel hat dir dein letzter Auftrag eingebracht? Würdest du mir diese Information preisgeben, auch wenn du mich erst seit vier Sätzen aus diesem Blogbeitrag kennst?
Ohne Verständnis für den Grund der Frage und eine solide Vertrauensbasis würde ich wohl kaum meinen Monatslohn nennen, geschweige denn öffentlich ins Internet stellen. Umso erstaunter war ich über die Auflistung von Nico Semsrott (deutscher Kabarettist, Slam-Poet und seit 2019 Mitglied des Europäischen Parlaments). Auf seiner Homepage unter der Rubrik «Transparenz» wird sein komplettes Einkommen als EU-Abgeordneter sowie das Budget inklusive aktueller Stand der Ausgaben schön interaktiv und detailliert aufgeführt. Dazu oben der sarkastische Hinweis «Ich glaube, alle Politiker*innen, die sich gegen Transparenz wehren, haben dafür schon ihre Gründe.»
Vielleicht sei hier erwähnt, dass Nico – auch wenn er sich selbst zum realpolitischen Flügel zählt – Abgeordneter der Satire-Partei «Die PARTEI» ist. Seine Aktionen aber als Witze abzustempeln, greift aus meiner Sicht nicht. Gefühlt nimmt er seinen Job ernster, als manch einer seiner Parlaments-Kollegen.
Die Idee hinter dieser ganzen Offenlegung der Finanzen fasziniert mich. Sie schafft, um beim Politik-Beispiel zu bleiben, Vertrauen für die Wähler. Wo Einsicht in die Bücher möglich ist, muss nicht ständig die Angst vorherrschen, dass mir da etwas verheimlicht wird. Die Realität ist bei der Berufsgruppe der Politikerinnen und Politiker aber eine andere. Dies zeigte sich unter anderem in einer Schweizer Umfrage des Forschungsinstituts Sotomo und des Stapferhauses Lenzburg. Die Politik bildete dort das Schlusslicht, wenn es um die Vertrauensbasis geht. Den Befragten ist es zwar am zweitwichtigsten (nach den Ärztinnen und Ärzten), dass Politiker die Wahrheit sagen. Das konkrete Vertrauen aber, dass sie dies tun, ist hingegen sehr, sehr gering. Die Basis scheint zu fehlen.
Ob mehr Transparenz diese Umfragewerte verbessern würden, weiss ich nicht. Was aber öffentliche Wahrnehmung bewirken kann, zeigte die sogenannte «Blackout Prevention Studie» in Amerika. Dort kommt kaum ein Haus ohne eine Klimaanlage aus. Der hohe Stromverbrauch könnte dadurch an heissen Sommertagen das Netz im schlimmsten Fall zum Kollaps bringen. Mit dieser Grundlage suchte ein Forschungsteam nach Personen, welche einverstanden waren, dass die Elektrizitätswerke bei Bedarf einzelne Geräte in ihrem Haushalt temporär per Fernsteuerung ausschalten dürfen. So könne ein totales «Black-out» des Stromnetzes zu Gunsten aller in der Region verhindert werden. Das Team wollte damit herausfinden, welche Reize die Bereitschaft zum Gemeinwohl am meisten steigern könnten. Sie war spannenderweise dreimal so hoch, wenn die Liste der Teilnehmenden Haushalte öffentlich sichtbar statt anonym blieb. Einen finanziellen Anreiz hatte dagegen kaum eine Wirkung.
Unter den Augen der Öffentlichkeit verändert sich also das menschliche Verhalten. Dies fanden auch Nico und sein Team durch ihre fast schon provokative Transparenz im Bereich der Finanzen heraus. Konkret führte sie zu einem pflichtbewussteren und sparsameren Umgang mit dem anvertrauten EU-Geld. Wenn alle Ein- und Ausgaben dokumentiert werden müssen, überlegst du es dir zweimal, ob diese Investition nötig ist. Nico selbst sagt dazu: «Es ist nervig und ich schäme mich für Fehler. Auf der anderen Seite habe ich mich daran gewöhnt, dass jede und jeder sehen kann wie wir arbeiten. Warum tun das nicht alle und sei es nur aus Respekt vor den Bürgerinnen und Bürgern?»
Meine Gedanken kreisen um Szenarien von totaler Transparenz. Um eine Gesellschaft in der Misstrauen kaum mehr entsteht, weil man ja alles nachschauen kann. Es gibt keine Geheimnisse mehr um Gagen oder Entlöhnung. Überhöhte Preissysteme entspannen sich und führen zu einem vernünftigen Umgang mit Geld und zu fairer Bezahlung. Oder geht die Geschichte dann nach hinten los? Werden wir dann alle zu Kontrollfreaks? Privatsphäre würde gesellschaftlich mit Füssen getreten? Ist das die Lösung?
Mir fehlt der kühle Kopf. Der grüne Zweig scheint in weiter Ferne. Ich mache mir einen Kaffee aus der Migros für rund 40 Rappen die Kapsel und trinke ihn auf Arbeitszeit. So viel Transparenz muss reichen für heute.