In einem ersten Teil dieses Blogtextes habe ich erläutert, weshalb mir das Wort «Störenfriede» als Umschreibung meines Glaubens eigentlich recht gut gefällt. Ganz einfach, weil er nebst der Tatsache, dass er gewisse Menschen stört, gleichzeitig das wunderbare Potenzial in sich trägt, Menschen tiefen, inneren Frieden bringen zu können.
Ich beobachte allerdings nicht selten, dass Christinnen und Christen, die sich in der Kreativszene bewegen, mit dieser Ambivalenz ihres Glaubens grosse Mühe haben. Logischerweise hat niemand was gegen Frieden. Aber muss er denn gerade stören? Diese Frage scheinen sich viele zu stellen und weichen dem Unbehagen lieber aus. Doch dabei verpassen wir meiner Meinung nach eine grossartige Ressource. Egal, ob wir persönlich nun an Gott glauben oder nicht.
Der britische Musikjournalist und Autor Steve Turner drückt es in seinem um die Jahrtausendwende erschienenen Buch «Imagine» so aus:
«Gerade dann, wenn die Menschen davon überzeugt sind, das Thema Gott in Bezug auf eine bestimmte Frage wieder los geworden zu sein, bringen Christen ihn wieder ins Gespräch – das kann nerven. Denn wenn Gott wieder Thema ist, sind die Menschen gezwungen, sich mit ihm zu beschäftigen, und sei es nur, um ihn dann wieder an den Rand zu schieben.»
Mir gefällt die Nüchternheit in dieser Feststellung. Und die Eigenverantwortung jedes Menschen, die darin zum Ausdruck kommt. Denn ob jemand Gott wieder zurück an den Rand schiebt oder ihn zu einem zentralen Lebensthema macht, obliegt ganz der eigenen Verantwortung. Entscheidend ist vielmehr, dass sich Menschen mit Gott befassen.
Dabei müssen Christen, wie es scheint, immer mal wieder auf das positive Potenzial ihres Glaubens aufmerksam gemacht werden. Ghandi drückte es einst so aus, als er über die Bibel sprach:
«Ihr Christen habt in eurer Obhut ein Dokument mit genug Dynamit in sich, die gesamte Zivilisation in Stücke zu blasen, die Welt auf den Kopf zu stellen, dieser kriegszerrissenen Welt Frieden zu bringen. Aber ihr geht damit so um, als ob es bloss ein Stück guter Literatur wäre, sonst weiter nichts.»
«Ja, genau! Was ist eigentlich unser Problem mit der kraftvollen Wirkung unseres Glaubens?» höre ich mich Ghandi innerlich zunickend sagen. Denn nebst ein paar wenigen gehässigen Reaktionen erlebe ich persönlich vor allem, dass meine Begeisterung für meinen Glauben in anderen Menschen Respekt, manchmal gar Bewunderung oder Neugierde auslöst.
Der Grund dafür ist scheinbar einfach: Echte, natürliche Begeisterung ist ansteckend, attraktiv und hat Auswirkungen auf unser Umfeld. Das haben andere unlängst erkannt, wie der wahrscheinlich bekannteste Veganer-Witz deutlich macht: Woran erkennst du, dass jemand Veganer ist? Keine Angst, er erzählt es dir bestimmt!
Wenn sich Menschen für deine Ansichten interessieren sollen, dann musst du darüber – richtig, ja – sprechen. Natürlich sollte das nicht per se einfach nur stressen. Wobei auch das nicht wirklich der springende Punkt ist, wie uns die Veganerinnen und Veganer (nicht nur im Witz) ebenfalls beweisen. Was im ersten Moment stresst, lässt einen manchmal eben auch ein zweites Mal hinschauen und entfaltet erst dann seine Bedeutung für einen selber.
Ein Betreuer, mit dem ich währen ein paar Jahren im offenen Jugendstrafvollzug zusammenarbeitete, bewies das mit seiner Leidenschaft für das Schwyzerörgeli so eindrücklich. Es lief eigentlich immer gleich ab: Zuerst machten sich die neu ankommenden, «harten» Jungs über das Schwyzerörgeli lustig. Es sei lächerlich, ätzend, nichts im Vergleich etwa zu Hip-hop, Metal oder was auch immer gerade auf ihren Kopfhörern lief. Doch das kümmerte den Betreuer wenig. Bei jeder Gelegenheit spielte er das Schwyzerörgeli und man konnte daneben stehen und die Tage zählen, bis die Jungs daneben weich wurden und in der Regel nach wenigen Monaten selbst neben ihm sassen und mitspielten.
Wurden diese Jugendlichen missioniert und dann zum Schwyzerörgeli bekehrt? Es war wohl viel eher ein «Schwärmen», dem man sich nicht entziehen konnte, mit dem man sich auseinandersetzen musste. In meinem Fall waren die Veganer mit ihrer Schwärmerei übrigens bisher erfolgreicher als die Schwyzerörgeler. Meine wahre Bewunderung jedoch gilt seit Jahren einem anderen, wenn es darum geht, seine Überzeugung auf absolut kompromisslose und dennoch unaufdringliche Weise kund zu tun.
«Soli Deo Gloria» – Gott allein die Ehre – schrieb Johann Sebastian Bach vor über 250 Jahren jeweils auf seine Partituren. Er brachte damit leidenschaftlich seinen Glauben zum Ausdruck. Das wirkte damals wie heute einerseits «störend», andererseits auf wundersame Weise eben auch «befriedend».
Igor Levit, einer der bedeutendsten Pianisten der Gegenwart, wurde für seine Version von Bachs Goldberg-Variationen berühmt. Der deutsch-russische Ausnahmekönner beschrieb sein Gefühl, wenn er Bach spielt, in einem Interview 2018 mit der ZEIT so:
«Ich bin kein religiöser Mensch oder so, das ist nicht mein Thema. Aber egal, was Bach schreibt: Ich fühle mich verstanden. Ich vertraue ihm, ich fühle mich geschützt und geborgen. Ich gehe mit. Das kann ich nicht erklären. Aber ich fühle mich an die Hand genommen.»
Und gleich im Anschluss führt Levit aus, wie er an einem Ort einmal «God is love» las, eigentlich lieber sowas wie «Love is love» gelesen hätte, dann aber aufgrund seiner – man kann es nicht anders sagen – religiösen Erfahrung mit Bach schliesslich zustimmen musste: «Es ist so … es ist irgendwie so.»
Ist das Mission, gegen die man sich wehren muss? Wohl eher Schwärmerei, der man sich nicht entziehen kann (und auch nicht muss). Meinen christlichen Zeitgenossen, insbesondere in der Kunst, möchte ich sagen: Oft vermisse ich die Selbstverständlichkeit, mit der wir in einer natürlichen Schwärmerei über unseren Glauben sprechen. Wir sollten die Menschen um uns herum mit unserem Glauben öfters mutig aber behutsam an die Hand nehmen, wie das ein Bach tut. Und alle anderen, die mit diesem Glauben nichts am Hut haben wollen, möchte ich fragen: Wo bleibt eure Entspannung? Denn wenn ihr tatsächlich so von eurer Sichtweise überzeugt seid, muss es euch doch nicht aus der Ruhe bringen, wenn jemand was anderes glaubt.
Diese Störung sollte erlaubt sein.