Mir tut die Viertelpause leid. Sie wird durchs Band ignoriert von meiner Tochter, konsequent so behandelt, als ob sie gar nicht da wäre. Zum wiederholten Mal fidelt meine Älteste mit ihrer Violine fröhlich über das Pausenzeichen hinweg. Mein genervtes «Zum dritten Mal: Da ist ne PAUSE!» unterbricht das vorweihnachtliche, gemeinsame Musikmachen. Schöne Adventsstimmung! Eigentlich hätte ich ne Ahnung von Pädagogik. Aber Ahnungen helfen einem auch nicht immer weiter. Mir jedenfalls nicht.
Bereits die Psalmisten notierten in ihren Liedern Pausenzeichen. Am Ende des 12. Verses im 46. Psalm zum Beispiel: Der Herr Zebaoth ist mit uns, der Gott Jakobs ist unser Schutz. Sela.
Sela – Aus dem Hebräischen ein oft wiederkehrendes Tonzeichen der Psalmen im Alten Testament. Die genaue Herkunft und Bedeutung des Wortes sind zwar nicht gänzlich geklärt. Musikalisch betrachtet aber definitiv ein Ruhepunkt, nach dem kurz nichts sein soll, bevor es weitergeht. So ähnlich kennen wir das ja als «Break» in Pop oder Jazz, wo im Minimum die Drums kurz schweigen.
In der Partitur meiner Tage und Wochen, meines kreativen Schaffens und meiner Projekte steht häufig ein Sela. Das Problem ist nur, dass ich mit meinen Alltagsinstrumenten ganz einfach über diese Notation hinwegfege.
Da bin ich keinen Deut besser als meine Tochter und ihre Geige. Mir würde ein mütterliches «Zum x-ten Mal: Da ist ne Pause!» vom Himmel her öfter mal gut tun. (Glücklicherweise ist der Tonfall von dort oben anders als meiner.)
In keiner anderen Situation werden wir uns der Zeit so bewusst, wie in Momenten des Wartens. Die Zeit steht zwischen uns und einem Ereignis. Darauf warten, bis es weitergeht, ist ja auch nervig. Da nehmen wir uns doch gerne mal die Freiheit, darauf zu verzichten. Suboptimale Faktenlage für Zeiten wie die aktuelle:
Die angesagte Tugend sowohl in Phasen der Pandemie als auch in der Adventszeit heisst Geduld.
Ich definiere diese als Mischung aus Ausdauer, Frustrationstoleranz und Selbstkontrolle. Genau das alles fällt sowohl grossen wie auch kleinen Menschen nicht immer leicht. Lässt sich momentan täglich beobachten bei meinen Kindern. Die müssen sich zu viert einen Adventskalender teilen. Also warten sie immer vier Tage, bis sie wieder dran sind. Ein Kraftakt. Studien zeigen, dass Menschen, die in ihren ersten Jahren gezwungenermassen warten lernen mussten, später einen gesünderen Lebensstil pflegen, besser verdienen und weniger anfällig für Suchtverhalten sind. Das rechtfertigt die Sache mit dem Low-Budget-Adventskalender, finde ich.
Advent – der Warteraum vor Weihnachten.
Eine Zeit voller Achtel-, Viertel- und sonst welchen Pausenwerten. Ich kann sie wie Luft behandeln und mich gerne selber spielen hören, oder aber ich setze kurz aus. Um mich zu sammeln, den anderen zuzuhören, Energie fürs neu Ansetzen zu holen, etwas nachklingen zu lassen, das es wert ist, nicht sofort wieder überspielt zu werden. Was auch immer. Es gibt genügend Dinge, die nur während Pausen passieren und sonst gar nicht. Da vertraue ich voll und ganz dem, der den Song geschrieben hat. Ich will warten können können. Die Psalmisten helfen mir beim Üben. Sela.
Schau dir passend dazu eine Fotoserie an:
Fotografie: Damaris Thalmann
Artistic Direction: Damaris Thalmann & Noemi Siegfried
Model & Styling: Noemi Siegfried
In der Fotoserie Warten werden (Gedanken-) Räume eröffnet. Die Bilder, die an Filmstills erinnern, erzählen die Geschichte vom Dazwischen, diesen Momenten, die niemand bewusst wahrzunehmen scheint. Die Fotografien haben inszenierte, wie auch dokumentarische Anteile und laden durch ihre surrealen Komponenten zum Verweilen, Nachdenken und Geschichtenspinnen ein.