Eine Weihnachtsgeschichte

So kurz vor Weihnachten darf eine ganz bestimmte Geschichte nicht fehlen. Die mit der Krippe und dem König ohne Krone. Passt halt einfach ganz gut. Ich erzähle sie euch nicht, weil ihr sie noch nie gehört hättet. Auch nicht, weil ich sie besonders gut erzählen könnte. Einfach nur, weil wir Geschichten brauchen in dieser seltsam eingefrorenen Zeit. Uns gegenseitig Geschichten zu erzählen, ist eine der ältesten Formen, Erfahrungen und Emotionen zu teilen. Auf dass wir uns – im besten Fall – unserer Menschlichkeit bewusster werden, uns mit dem ganzen Rest der Welt verbunden wissen und unser Jetzt besser verstehen. 

 

Drei Jahrzehnte vor unserer Zeit

Behutsam öffne ich die Deckel der in die Jahre gekommenen Pappkartons. Sie riechen nach Keller und da und dort sind die Kanten eingerissen. Eingewickelt in dünnes Papier liegen die holzigen Krippenfiguren dicht nebeneinander in der Schachtel. Ich wecke die Figuren aus ihrem elfmonatigen Schuhschachtelschlaf für den einen Auftritt im Jahr. So habe ich mir das zumindest immer vorgestellt. Die minimalistisch gehaltenen Figuren eines Holzschnitzkünstlers waren eine außergewöhnlich teure Anschaffung für unsere Familie. Das Setting wird mit größter Behutsamkeit aufgebaut und sollte danach nicht mehr berührt werden. Etwas Heiliges geht von der Wohnzimmerecke mit den Krippenfiguren aus. Wenn niemand zu Hause ist, schleiche ich mich zur Krippe und spiele mit den Holzfiguren. Ich erzähle mir selbst dieselbe Geschichte immer und immer wieder. 

 

Zweitausend Jahre vor unserer Zeit

Dreissig Jahre später schleiche ich mich gedanklich zurück in die «heilige Ecke» mit den nach Leinöl riechenden Krippenfiguren. Ich greife mir Josef im langen Mantel mit Stehkragen und frage mich, wie er sich in seiner Rolle gefühlt haben mag. Von den Hirten wird erzählt, sie hätten mit eigenen Augen ein helles Licht gesehen und einen Chor voller Engel singen gehört. Die Weisen stießen auf eine ungewöhnliche Erscheinung am Himmel. Maria bekam gar Besuch von einem Engel, der sie über die ganze Sache aufklärte. Und Josef? Kein Zeichen am Himmel, keine musikalische Botschaft, kein übernatürliches Erlebnis. Er träumte lediglich von einem Engel, der ihm von Marias Schwangerschaft erzählte. Aber mal ehrlich – was träumt man nicht alles, wenn die Nacht lang ist. Bei vollem Bewusstsein bekam dieser arme Tropf keinerlei Informationen zu dieser skurrilen Geschichte. In der besagten Nacht stand er, der einzige ohne handfeste Beweise, dann da und kümmerte sich um alles. Ihm blieb nichts anderes, als sich die unglaublichen Geschichten der anderen anzuhören. Obwohl nicht mal an der Erzeugung dieses Kindes beteiligt, hing er voll mit drin. 

 

Jetzt

Unsere Pfarrerin hier im Ort hat kürzlich geschrieben:

«Josef ist der erste Protestant, der eigentlich nicht mehr hat, als das Wort und die Erzählung dieser armen Leute und der Ausländer.»

In dieser Feststellung höre ich nicht die Sache mit der Konfession heraus, sondern vielmehr eine spannende Wortklauberei. Protestari ist lateinisch und bedeutet «bezeugen, Zeuge sein.» Und das war dieser Josef nun mal, lediglich ein Zeuge, der nur das Wort der anderen hatte. Das schien ihm ausreichend. 

An diesem Punkt der Erzählung sind wir da gelandet, wo eine Geschichte uns helfen könnte, uns verbunden zu fühlen und das Jetzt besser zu verstehen. Im Normalfall haben auch wir nicht mehr als ein dickes Buch, viel vom Hörensagen und wenn’s hoch kommt mal einen Traum. Warum aber sollten wir uns damit nicht zufrieden geben, wenn es Josef ausreichte? Warum sollte uns das Hören, Erahnen und Glauben nicht genügen? Genau darin erkenne ich Gott sehr viel eher und öfter, als in allem, was sich so wahnsinnig sicher sein will.