«Im Minimum s’Wätter»

Das Haltbarkeitsdatum von 2020-Jahresrückblicken ist überschritten. Ich werfe nur noch einen letzten, kurzen Blick zurück auf dieses sperrige Jahr. Am Ende dieses Textes wird der Kalender bereits 2021 anzeigen. Ein vorsichtiger erster Schritt in diesem noch jungen Jahr.

31. Dezember 2020

Ein Jahreswechsel fühlt sich wie ein Neustart an – ein Kapitel abschließen, Schweres hinter sich lassen und einen Schlussstrich ziehen. Ein mir bekanntes Gefühl, am Ende eines Jahres. Ich mag es, eine neue Chance zu bekommen, es besser machen zu können. Ein neues Jahr – poetisch gesehen ein Hoffnungsschimmer in schwierigen Zeiten. Ein zu romantisierter Blick?

Apropos Romantisierung: Rückblickend war doch auch nicht alles schlecht und im Endeffekt kam es doch gut! Der Realist in mir soll kurz still sein und nostalgisch schwelge ich in guten Erinnerungen. Weniger melancholisch sondern freudig und fast schon wehmütig. Eine bekannte Onlineplattform mit einem blauen Logo erinnert mich ja auch immer wieder an freudige Ereignisse der Vergangenheit. Der Algorithmus suchte beliebte Beiträge «… an die du vielleicht gerne zurückdenkst». Sich erinnern und etwas vergessen oder auch loslassen können, sind wichtige menschliche Eigenschaften.

Im Frühling dieses geschichtsträchtigen Jahres, stießen wir auf Tagebücher vom Urgroßvater meiner Frau Anja. Keine Teenager-Tagebücher sondern reduzierte Zeitdokumente, welchen ich den Titel «Im Minimum s’Wätter» gegeben hätte. Es waren Mehrjahres-Tagebücher, bei denen man Ende Jahr immer wieder von vorne startete und so die Tage mit den Vorjahren vergleichen konnte. Ziel war es wohl damals, die Anpflanzungen im Garten zu dokumentieren oder eben die Wetterverhältnisse. Kurz, knapp und meist emotionslos wurde der Alltag eines Mannes mit Jahrgang 1906 Ende der 80er, Anfang 90er dokumentiert. Fasziniert und auch etwas amüsiert, schauten wir die Einträge durch. Der erste «Bub» seiner Enkelin wurde stolz am Geburtstag erwähnt, die weiteren Urenkel folgten dann Tage später eher als Randnotiz. Der emotionalste Eintrag war wohl die Erwähnung der 4 «Nells» von Theo beim Jassen. Dies entlockte dem Schreiber tatsächlich ein «Juhui!».

Ich war so begeistert von diesem tollen Zeitdokument, dass ich mir nun auf Weihnachten auch ein 5-Jahres-Tagebuch gewünscht habe. Heute ist also nicht nur der letzte Tag des Jahres, sondern auch der letzte für 5-Jahren ohne im Minimum das Wetter dokumentiert zu haben. Na dann: «En guete Rutsch!»

5. Januar 2021

Da wären wir also. Die Null wurde eingelagert und die Eins montiert – 2021 ist da. Und jetzt? Ich gebe zu, ein Wunder hatte ich nicht erwartet und Vorsätze mache ich eher zurückhaltend. Etwas verhalten schaue ich diesem frischen Jahr entgegen und frage mich, wie die Abrechnung am 31. Dezember 2021 aussehen wird. Oder noch weiter gedacht, was in 5 Jahren mein neues Tagebuch füllen wird.

Inhaltlich müssen wir uns – also mein neues Tagebuch und ich – noch finden. Ausser vielleicht ein paar versteckte Botschaften an meine möglichen Urenkel bleibt der Inhalt persönlich und soll nur für mich allein zu einem wertvollen Zeitdokument werden. So gerne ich bereits zum jetzigen Zeitpunkt vorblättern würde, aktuell finde ich nur leere, aber immerhin beschreibbare Seiten. 

Ich möchte die Zukunft – diese wenigen zur Verfügung stehenden Zeilen Erinnerung pro Tag – freudig und hoffnungsvoll erwarten. Es wächst eine Vorfreude auf den Dezember 2025 und den nostalgischen und vielleicht auch romantisierten Blick zurück.