Von A bis B

Wir befinden uns in irgendeiner Küche einer x-beliebigen Familie, völlig egal in welcher Stadt. Ein Raum wie aus dem Möbelkatalog. Man sollte ein Foto machen und es auf Pinterest stellen. Überall DIY Projekte, die sagen, dass hier nicht nur stilvolle, sondern handwerklich begabte und kreative Köpfe wohnen. Eine Seite der Küchenabdeckung ist mit Wandtafelfarbe gestrichen. Ein aufwändig geschriebenes B und eine gezeichnete Biene darauf. Kreide und Kalligrafie – ist ja en vogue. Die Eltern der beliebigen Familie erzählen, was es mit der Schnörkelschrift auf sich hat: Mit der Visualisierung wollten sie ihren Sohn unterstützen und motivieren beim Lesen lernen. Eigentlich hätte jede Woche der nächste Buchstabe des Alphabets mit dazu passender Zeichnung entstehen sollen. Weiter als bis zum B wie Biene sind sie nicht gekommen. Der Schulstart des Sohnes liegt ein halbes Jahr zurück. «Wahrscheinlich werden wir wohl auch noch eine Weile bei B bleiben», sagt der Vater und zuckt mit den Schultern. 

Ich kenne das nur zu gut. Besonders im ersten Teil des Jahres habe ich eine Menge dieser von A-Z-Pläne. Ich rufe innerlich Jahr für Jahr die Zeit des Durchziehens und Zuendebringens aus. Dagegen ist erstmal gar nichts einzuwenden. Ohne sich Ziele zu stecken, kommt man bekanntlich auch eher selten irgendwo an. Aber ich kenne eben auch das Gefühl, erstmal nur bis B zu kommen. Und noch schlimmer: Eine ganze Weile dort festzustecken. Natürlich will ich mich nicht für den Rest meines Lebens mit zwei von 26 Buchstaben zufrieden geben. Aber erstmals bleibe ich da stehen und lerne, mit den Schultern zu zucken. Passend zu dieser erstrebenswerten Entspanntheit habe ich eine Lieblingszeile aus den Songlyrics des amerikanischen Sängers Allen Stone:

The best part of learning

is just loving where you’re at.

Ihr kennt diese Tagträume, in denen man Dinge tut, die man niemals in Echt tun würde. Bei einem meiner Tagträume schreie ich diese Songzeile in furchteinflößender Lautstärke und mit hochrotem Kopf allen Selbstoptimierern ins Gesicht und schmeisse noch ein paar Tomaten und üble Beleidigungen hinterher. Würde ich nie tun, klar.

Aber sag mal, haben wir wirklich verlernt, zwischendurch mal festzustecken und uns damit abzufinden? Für einen kurzen Moment einfach mal zufrieden zu sein mit dem, was wir jetzt gerade sind und haben? Meine Großeltern nannten das Dankbarkeit. Vielleicht auch Genügsamkeit. Niemand nannte es Faulheit oder Versagen. 

Im 12. Monat der Pandemie sind um mich herum ungewöhnlich viele blanke Nerven, müde Geister und dünnes Seeleneis zu sehen. Wollen wir zu viel? Vielleicht sollten wir es während diesem Jahrhundertereignis einfach lassen, zu allem anderen noch ein besserer, freundlicherer, kreativerer und glaubensstärkerer Mensch werden zu wollen. Während eines Interview, das ich mit dem Deutschen Musiker und Sänger Jonnes letztes Jahr geführt habe, sagte dieser: «Ich darf kapitulieren. Ich darf einen Schritt zurück machen. Ich darf auch sowas wie aufgeben.» Ist mir schon klar, dass ich das aus dem Zusammenhang reiße und auch, dass ich zu mir selber predige. Und doch setze ich heute ein fettes Ausrufezeichen hinter seine und Allen Stones Worte. Ein verschnörkeltes B und eine Biene dürfen zur Ganzjahresdeko werden. Und es ist völlig ok.