Im wissenschaftlichen Kontext wird einem Text eine These vorangestellt, die dann auf den darauffolgenden Seiten, bestätigt oder widerlegt wird. Ein klarer Aufbau, der mir schon immer widerstrebte. Daran ist nichts falsch. Nur bin ich wohl nicht sonderlich geeignet für wissenschaftliches Arbeiten.
Es schien mir immer etwas suspekt, eine explizite Antwort zu formulieren, wenn ich mich noch nicht einmal auf die Reise nach der Frage gemacht habe. Woher soll ich denn zu Beginn bitteschön wissen, auf was das Ganze hinausläuft?
Als Studentin habe ich deshalb manchmal geschummelt und die These erst vorne hingestellt, als ich schon längst unterwegs war.
In der Kunst ist das vollkommen anders. Unter anderem dafür liebe ich sie. Kunstschaffende fällen in der Regel kein Urteil, das sie danach mit ihrer Arbeit zu begründen versuchen. Wenig vorgefertigte Meinungen, keine vorgezeichneten Wege. Vielmehr begegnet mir ein unvoreingenommenes, neugieriges Hineintreten in ein Land, indem immer wieder alles passieren kann. Künstlerinnen und Künstler eignen sich Töne, Wörter, Formen und Farben an und erzählen mir damit eine neue Geschichte. Diese Tatsache empfinde ich als beneidenswert, faszinierend und anstrengend zugleich. Mein Neid zielt auf die Leichtigkeit und die Narrenfreiheit. Die Faszination gilt dem Schöpferischen und Innovativen. Anstrengend ist die Sache, weil mir in der Kunst niemand eine Entscheidung abnimmt, eine These vorne hinstellt oder meine Meinung bildet. Das bleibt alles an mir hängen. Am Ende landet der Ball immer wieder bei mir.
Die Bibel erzählt mir von einem, der den Ball ebenfalls ständig den anderen zugespielt hat. Wäre das hier eine wissenschaftliche Arbeit, würde ich nun die These aufstellen, Jesus sei auch ein Künstler gewesen. Wie gut, dass ich das nicht tun muss. Ich bleibe bei meinen freien Gedanken über diesen Mann. Aus einem Interview mit der Deutschen Schriftstellerin Felicitas Hoppe habe ich die Erkenntnis, es als großes Glück zu bezeichnen, dass Jesus lieber Gleichnisse erzählte, statt sich auf eindeutige Aussagen festzulegen. Liest man die Stellen heute nach, wirkt das schon mal irritierend. Jesus wird beispielsweise gefragt, wer denn eigentlich mit «der Nächste» gemeint ist. Er bleibt die Antwort schuldig und erzählt stattdessen eine Geschichte, die jetzt nicht gerade als No-Brainer bezeichnet werden könnte. Anstatt am Schluss die Bedeutung der Geschichte zu erklären, stellt er eine Gegenfrage.
Eine ähnlich irritierende Szene spielt sich mit einigen Pharisäern und einer Frau, welche die Ehe gebrochen haben sollte, ab. Die hohen Tiere wollen Jesu Meinung zum Tatbestand hören. Die kriegen sie nur bedingt. Jesus bückt sich und zeichnet in den Sand. Und dann gibt er eine Antwort, die vielmehr wie eine Frage klingt: «Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.»
Wie schön, dass Jesus seinen damaligen Zuhörerinnen und Zuhörern zutraute, seine Erzählungen zu interpretieren und Fragen und Antworten darin zu entdecken. Was für ein Glück, dass er mir bei meiner Bibellektüre heute noch ein Gleichnis in die Hände legt und scheinbar keinen Zweifel daran hat, dass ich damit nach Hause gehe und es in meine Realität übersetze.
Erwachsen sein heisst wohl auch, nicht nach Meinungsbildnern, klaren Aussagen und eindeutigen Geschichten zu schreien, sondern selber sehen zu wollen.
In diesem Sinne halte ich nebst der süssen Faszination auch die teils unangenehme Tatsache aus, dass mir sowohl durch die Kunst als auch durch die biblischen Erzählungen ständig nur wieder der Ball zurückgespielt wird.
Ich weiss nun, das muss so.
PS für den Gegenwartsbezug: Kunstschaffende sollten sich gerade jetzt den Luxus leisten können, sich gesellschaftlichen Zuständen anzunehmen, in den Sand zu kritzeln, eine Geschichte zu erzählen und dann zurück zu fragen: Und, was denkt ihr jetzt?