Die zweidimensionale Welt

Licht an!

Eine Mutter geht mit ihrer achtjährigen Tochter am Bahnhof Zürich Stadelhofen dem Bahnsteig entlang. Auf der gegenüberliegenden Seite der Gleise hängt ein überlebensgroßes Plakat eines Moderiesens. Die Tochter fragt: «Mama, was macht diese dicke Frau auf dem Bild?» Kinder sind bekanntlich schonungslos und ungefiltert. Die Mutter startet einen strauchelnden Versuch, einer Achtjährigen das beknackte, mediale Diktat vom Schönheitsideal, die Oberflächlichkeit unserer Gesellschaft und die feministische Idee, diverse Frauenkörper abzubilden, zu erklären. Dass der Tochter das Plakat als irritierend ins Auge fiel, bestätigt, dass da noch ein weiter Weg zu gehen ist. 

Black

 

Licht an!

1969, Ellen Berscheid, Forscherin an der Universität von Minnesota sitzt in der Bibliothek und blättert sich durch die Studienergebnisse einer ihrer Doktorandinnen. Die Forscherin wird später sagen, die Ergebnisse haben bei ihr eine Art Ekel hervorgebracht. Die zentrale Frage der Untersuchungen: «Was macht Menschen am Anfang ihres Lebens beliebt?» Die Erklärung war erschreckend einfach: Je hübscher, desto beliebter. 

Black

 

Man spricht von der stillen Macht der Schönheit. Wir sind fasziniert von Ästhetik, Oberflächen ziehen uns magisch an. Die Bibel spricht bereits im Alten Testament im 1. Samuel davon: «Ein Mensch sieht nur, was vor Augen ist.» Dass wir anscheinend seit Geburt generell auf Äußerlichkeit und insbesondere auf Schönheit gepolt sind, beweist eine Studie mit Babys. Die Neugeborenen schauen sich schöne Gesichter deutlich länger an als weniger schöne. Symmetrie, reine Haut, Jugendlichkeit. Soweit die stärksten Faktoren in der Frage, was wir bei Menschen als schön empfinden. Hat anscheinend alles irgendwie mit archaischen Mustern, Fortpflanzung, Gesundheit und dem Genpool, den wir unbewusst wählen, zu tun. Schönheit wirkt im Kopf wie Drogen. Beim Anblick eines schönen Menschen springt in unserem Gehirn das Belohnungszentrum an. Der Teil, der ohne Ende Glücksbotenstoffe ausschüttet. In unserem Gehirn schreit es laut: «Schön ist gut!» Das führt zu einem Wahrnehmungsfehler, den der Neurowissenschaftler Anjan Chattterjee als «Halo-Effekt» bezeichnete. Der Heiligenschein der Schönheit überstrahlt alles. Wir dichten schönen Menschen gute Eigenschaften an. Wir meinen, die Schönen sind die Guten, Schlauen und Wichtigen. Was draufsteht, wird ja wohl auch drin sein. Die Verpackung reicht uns als Prüfstein aus. All das führt dann, verkürzt erklärt, tatsächlich dazu, dass die Schönen zu den Erfolgreichen werden. Weil positive Resonanz, eine Menge Möglichkeiten und so weiter. Der Irrtum wird so zur Wahrheit. 

Spätestens an diesem Punkt der Thematik taucht meine Wut auf. Verlässlich wie eh und je. Nervt doch alles! Sind wir tatsächlich nicht in der Lage, unsere Oberflächlichkeit zu überwinden? Schönheit mal eben neu zu denken? Nicht fähig, uns durch das Wissen über den Schön-ist-gut-Irrtum, von demselben zu befreien? 

Ich starte mal damit, meine Wut in mir als Kraft zur Umdeutung zu nutzen. Nietzsche spricht von der Schönheit der Kunst als der «Verführung zum Leben». Meine archaische Polung auf Schönheit könnte doch die Sehnsucht nach Leben ausdrücken. Nach dreidimensionalem Leben. Johannes spricht in seinem Evangelium davon, dass der Sohn Gottes gekommen sei, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben. Das ist mal eine Ansage.

Ich will der Anziehung des Aalglatten um mich herum widerstehen, mich vom Attraktiven entwöhnen und mich zwingen, tiefer zu graben, mir meine Hände schmutzig zu machen auf der Suche nach dem, was dahinter liegt.

Will nicht die Fassade bewundern, ohne jemals ins Haus zu gehen. Will nicht nur swipen und liken, sondern mit meiner Sehnsucht nach Schönheit im Herzen die zweidimensionale Welt durchbrechen. Den flächigen Hochglanz eintauschen gegen plastisches, vielfältiges Leben in Fülle.