Essential Art

Von Grunge, nassen Schwämmen & lebensnotwendigen Kunstoasen

Da ist er wieder. Der Funke. Der alles Entzündende.
Mitten in der Fußgängerzone in Berlin.

Verbotenerweise spielt eine Underground Grunge-Punkband die Corona Regeln an die Wand. Der Alkohol- und Drogenkonsum ist den vier Jungs deutlich ins Gesicht gezeichnet.
Ihr äußeres Erscheinungsbild lässt Obdachlosigkeit vermuten.
Drums aus Regentonnen. Sticks aus Stöcken.
Schrabbeliger Sound, brüllende E-Gitarre, pumpender Bass.
Und dennoch so treibend, so lebensbejahend, so erlösend.

Wie Ertrinkende bleiben alle drum herum stehen. Ob jung oder alt, bunt, queer, allein oder in Grüppchen. Man hört förmlich die kollektive Seele aufatmen.
Der Gang der Leute verändert sich in ein anderes Tempo. Sie schweben förmlich beschwingt über den tristen, grau-weißen Zebrastreifen.

Die Luft flirrt voll von Rhythmus, Freiheit und der Spannung, dass die Polizei jederzeit die Menschentraube auflösen könnte.

Kaum neigt sich die 15-minütige Impro dem Ende zu, schreit ein Zuhörer, als ginge es um sein Leben: «Nicht aufhören! Zugabe! Zugabe!» Alle stimmen ein.
U-Bahn Vorhof-Romantik so greifbar, dass es mir einen Kloß in den Hals treibt.
Ich stelle mir vor, wie ich mir so einen Zuhörer in einer schwierigen Zeit meines Lebens gewünscht hätte, der mir in nächster Nähe ins Ohr brüllt: «Nicht aufhören! Zugabe! Zugabe!»
Die Absurdität, mit der plötzlich zu mir durchdringt, dass eine mir völlig abwegige Musikrichtung wie Grunge, Senioren, Kindern und mir gleichermaßen – in dieser Zeit, unter diesen Umständen beinah ein erlösendes Momentum der Absolution beschert.

Es lehrt mich:

– Selbst im obdachlosen «Drums-Drogen-Dude» steckt durch Kunst – in dem Falle Musik, sichtbar und hörbar werdend – blühendes Leben. Ohne Instrumente, ohne Musik, ohne diese Kunst wären alle verächtlich an ihnen vorbeigegangen. Hier ist Kunst am spürbarsten lebensnotwendig!

– Das gemeinsame Momentum der Band stülpt sich wie eine Schablone über die diverse Menge, die plötzlich ebenfalls eins wird. Eins im sich unterbrechen lassen. Im einander stehen lassen und nebeneinander bestehen. Im Anhalten und Zuhören.

– Die treibende Dynamik der Musik führt zu Bewegung. Bejahendes Kopfnicken und so manche Körperbewegung zur Musik findet ihren Ausdruck.

Vielleicht lehne ich mich damit zu weit aus dem Fenster, aber ich könnte schwören, einige Zuhörende innerlich völlig freidrehen zu sehen. Strahlende, erleichterte Gesichter.
Da mich eine Umwelt-Aktivistin in ein Gespräch verwickeln will und der Kloß in meinem Hals zunimmt, gehe ich weiter zu meinem Bahngleis.
Aber das Erste Mal seit langem treibt mich die leiser werdende, sich entfernende Musik dazu, meinen Pünktlichkeitssinn über Bord zu werfen. Ich kehre für die verbleibenden zehn Minuten um, nehme die fragenden Blicke der Aktivistin, die ich kurz vorher abgewimmelt hatte, in Kauf.

Und da steh ich wieder.
Ein paar Punks waschen mir mit Grunge (was übersetzt «Schmuddel», «Schmutz» bedeutet) vielleicht nicht die Füße, sowie Jesus seinen Jüngern. Dafür die Seele.
Staub und Schwielen vom Corona-Trail durch die Kunstwüste, der Abstinenz von Kultur und Liveveranstaltungen sind wie weggewaschen.
Kultur, die stets großzügig und verschwenderisch Töne, Bewegung, Mimik und übersprudelnde Ideen von sich gibt.
In diesem Moment trinken alle davon, als wäre es genau das: Die einzige Quelle inmitten unendlicher Wüste. Am Wasserloch werden alle wilden und zahmen Tiere gleich.
Bedürftig.
Und ich bin es ebenso. Wir alle sind es so sehr, dass wir beginnen, Musikstile und Kunstrichtungen plötzlich zu verstehen, zu akzeptieren und regelrecht aufzusaugen wie ein ausgetrockneter Schwamm.
Ein Schwamm, der endlich begriffen hat, dass er nicht dazu bestimmt ist, vertrocknet und ungenutzt dazuliegen, sondern Wasser aufzusaugen und damit Schmutz zu beseitigen.

Lasst uns gemeinsam nicht aufhören, stehen zu bleiben, wenn in der Sahara die Kunstoase blüht. Wir sind angehalten, uns für die weite, noch bevorstehende Strecke, zu stärken und zu trinken.

In der Oase nimmst du was du kriegen kannst. Denn Hunger und Durst holt dich vom hohen Ross individualistischer Erwartungen und Sonderwünsche.

Lasst uns nasse Schwämme sein, die den Schmutz der Welt mit Kunst wegwischen!

Lasst uns nicht aufhören.

ZUGABE! ZUGABE!
 

 

Blogtext anhören