(Im November 2020 sammelte Central Arts Schweiz unter dem Motto «GiveArtASec» Geld für die hauseigenen Kunstinitiativen vom kommenden Jahr. Jeder gespendete Franken bedeutete gleichzeitig eine Sekunde, die das Team von Central Arts in eine Kreativaktion investieren musste. Zum Jahresbeginn lösten wir unser Versprechen ein, sperrten uns für 16655 Sekunden in einen Raum und kreierten künstlerische Anstöße für das kommende Jahr. Die Top-Spenderinnen und -Spender der Kampagne sendeten dafür zusätzlich Begriffe, die berücksichtigt werden mussten, ein. «Genug» war eine der Einsendung. Dazu ist eine fotografische Umsetzung entstanden. Mein persönlicher Beitrag während diesen 4h 37 Minuten und 35 Sekunden blieb gering bis verschwindend. Bei mir funktioniert Kreativität und im Besonderen das Schreiben auf Knopfdruck eigentlich nie. Zudem bräuchte ich dazu das berühmt berüchtigte stille Kämmerlein und keinen Raum voller Menschen, Gespräche und Lachen. So ist das eine Wort «genug» nach der Aktion dann auch in irgendeinem Dokument mit einem lieblosen Arbeitstitel in meiner Cloud gelandet und nur von Zeit zu Zeit mit wenigen Satzfetzen ergänzt worden. Ein Sammelsurium von Anfängen. Letztes Wochenende haben wir asiatisches Essen bestellt, wobei ich mich maßlos überessen habe. Das üble Gefühl im Magen sagte mir klar und deutlich, dass es jetzt an der Zeit ist, das «genug-Dokument» aus dem cloudigen Dornröschenschlaf zu befreien.)
Wenn Worte wie Kinder zur Schule gehen würden, wäre «Genügsamkeit» mit Sicherheit kein Cool Kid. Sie würde in der Pause alleine rumstehen und im Sportunterricht zuletzt gewählt werden. Na gut. Vielleicht erlebt sie gerade jetzt ein klein wenig Fame. Der legendäre Charme der Outsider. Ihre Beliebtheit steht aber auf wackeligen Füssen. Denn wir haben die «Genügsamkeit» nicht ganz freiwillig zu uns nach Hause eingeladen, sie wurde uns aufgebrummt. Nur gezwungenermassen wurde uns im letzten Jahr klargemacht, dass wir auch mit weniger ganz gut auskommen. Und, dass ein volles nicht zwingend ein erfülltes Leben ist.
Den Zustand von davor kennen wir alle noch ganz gut. Ich umreiße ihn mal so: Wir leben über unsere Verhältnisse. Da ist ein Zwang zu möglichst grenzenlosem Wachstum, möglichst billigen Produkten, möglichst viel Mobilität, möglichst hoher Beschäftigung. Die Welt ist aus den Fugen geraten. Ich kann es grad nicht weniger dramatisch sehen.
Genug ist uns längst zu wenig. Wir sind ewig voll und selten satt.
Ohne zu verdauen, stopfen wir dauernd Neues in uns rein. Ständig mit der Angst, etwas davon wieder zu verlieren. Denn «Je mehr man hat, desto mehr muss man zittern, ob man das Haben halten kann», sagte die Psychotherapeutin Elisabeth Lukas in einem Interview so schön. Und wenn wir das Unsere dann noch mit dem der anderen vergleichen, erscheint es unabhängig der absoluten Menge so oder so als unzureichend. Wir sind Getriebene auf der Suche nach dem Glück, das wir stets erst hinter der nächsten Ecke vermuten. Unsere Seelen scheinen zu vergessen, wer sie sind, wenn sie mal nichts tun.
Aus diesem Sumpf der Maßlosigkeit sind ein paar wenige ausgestiegen. Die leben dann mit 60 Dingen ohne festen Wohnsitz. Oder zeigen uns ihr minimalistisches Zuhause auf YouTube. Sie sagen uns, dass uns alles, was wir brauchen abhängig mache und Verzicht demnach die totale Freiheit sei. Dass wenig haben zu wollen nur ein Privileg von uns Luxusmenschen sein kann, scheint auf den Channels kein Thema.
Wenn mir von Corona durcheinander geratene Lieferketten, Produktknappheit oder eingeschränkte Beschäftigungsmöglichkeiten eines lieb machen sollten, dann doch hoffentlich:
Maß halten. Tönt unsexy, ich weiss. «Ganz oder gar nicht» wäre manchmal die attraktivere Wahl. Weil so radikal, exzessiv und ohne jeglichen Verdacht auf Durchschnitt.
In so vielen Bereichen ein gesundes Dazwischen zu finden, ist anstrengend. Vor allem, wenn mir dabei niemand genau vorgibt, wie voll das Maß sein soll, damits genug ist. Verzichten hat mit Grenzen zu tun und damit, sich einer Möglichkeit zu berauben, sich zu beschneiden. Das tut weh. Ist nun mal so. Nur will ich vor diesem Schmerz nicht ein Leben lang davonlaufen. Tomas Sjödin, ein schwedischer Schriftsteller, den ich sehr gerne lese, beschreibt diesen Weg mit folgenden Worten: Vom «alles haben wollen, was man liebt» hin zum «alles lieben, was man hat».
Wir haben ein fettes Problem mit Maßlosigkeit. Zumindest ein Teil der Lösung wäre, dass wir Cool Kids auf dem Pausenhof ein paar große Schritte auf die Genügsamkeit – und vielleicht auch grad noch auf die Dankbarkeit – zu machen. Sie lassen nämlich das, was wir haben, genug sein. Auch das Gewöhnliche, Unumgängliche, das direkt vor unserer Nase steht.