In Martin Peppers Buch «Anbetung in der Praxis» gibt es ein Kapitel, das sich mit der Eigenheit von Kunstschaffenden und dem Wesen von Kunst und Religion auseinandersetzt. Ein kleiner Exkurs in seinem Werk, das sich sonst mit der praktischen Umsetzung von Anbetung in der Gemeindearbeit befasst. Sein analytischer Blick ist scharf und ungeschönt. Mit wenigen Sätzen zeichnet er ein umfassendes Bild. Und er bringt Kunst, Religion und die intensive Erfahrung des Rausches in eine thematische Linie. Spannend, wie wir finden. Und auch der Grund, einen gekürzten Auszug aus dem erwähnten Kapitel mit seinem Einverständnis hier im Blog zu veröffentlichen.
Kunst ist kein Anstrich,
sondern ein Gemälde
Was ist Kunst? Manche sagen: «Kunst kommt von Können» und meinen damit, dass ein gewisses handwerkliches Niveau den Künstler auszeichnet. Konsequenterweise wäre dann jeder, der häufig übt und das musikalische Handwerk versteht, ein Künstler. Das wäre im Blick auf das Besondere und Eigentliche der Kunst jedoch viel zu wenig. Das weithin rätselhafte Wesen der Kunst wird damit nicht getroffen. Kunst ist im allgemeinen eine Erfahrung und Praxis, die es schafft, den Menschen aus seiner Sicht der Welt herauszuholen und ihm eine andere Perspektive vor Augen zu führen. Kunst ist nicht nur eine kleine ästhetische Verschönerung, eine nette Illusion, um den tristen Alltag aufzufrischen.
Kunst ist kein Anstrich, sondern ein Gemälde. Kunst ist kein Echo, sondern ein eigener Klang.
Kunst kommt aus einer Zwischenwelt und öffnet die Pforten für eine andere Wahrnehmung als die der oberflächlichen Betrachtung. Sie will nicht nur eine weitere praktische Lebenserleichterung sein, nicht nur ein ästhetischer Nutzen. Sie hat manchmal eine Magie und einen Zauber, der sich nicht erklären lässt. Kunst kann deshalb revolutionär sein, subversiv und umgestaltend wirken. Deshalb fürchten alle gleichschaltenden ideologischen Systeme die Kunst. Sie hat eine Kraft, die wir sonst nur aus der archaischen Religion oder dem Rausch kennen.
Religion ist Widerspruch
Religion ist vom reinen Wortverständnis her «Rückbindung» (lat. religio). Sie verkörpert ein Urgefühl im Menschen, dass es irgendwann ein idealeres Sein gegeben hat, das wir verloren haben. Sie nimmt ein Störgefühl in der menschlichen Seele wahr und gibt ihm eine Stimme. Dieses religiöse Urgefühl erhebt mit lauter Stimme Einspruch gegen die reine Akzeptanz des Daseins. Es ruft: «Das kann nicht alles sein!» und «Die Welt ist nicht genug!». Wer religiös wird, bekennt sich zu einem Leiden an dieser Welt, wie sie ist. Er muss kein Verlierer der Gesellschaft sein, um so zu fühlen. Er spürt aber eine Differenz zwischen dem, was ist und dem, was sein könnte, ja vielleicht sogar sein sollte. Er begehrt auf gegen den Status Quo und drängt zu einer höheren Ordnung durch eine andere Sicht der Dinge.
Jeder wie auch immer geartete Glaube an Gott bildet einen provokativen Standpunkt. Wer von ihm ergriffen ist, stellt die Welt infrage, gerät in einen Zwiespalt und findet doch in seinem Glauben eine tiefere Gewissheit als alle anderen Gewissheiten.
Er will nicht nur verschönern und beschönigen, sondern die Wurzel des Hässlichen suchen und bekämpfen. Kunst hat in ihrem Wesen diese alles in Frage stellende Urkraft der Religion. Der evangelische Theologe Paul Tillich ist sogar der festen Überzeugung, dass Kunst immer eine religiöse Dimension hat, auch wenn der Künstler selbst sich als unreligiös bezeichnen würde
Rausch und Nüchternheit
Eine zweite Kraft, die dem Künstler nahesteht, ist der Rausch. Wir wollen versuchen, den Rausch ohne eine sofortige moralische Wertung anzuschauen. Rausch ist zunächst einmal der Gegensatz zur nüchternen Erfahrung der Wirklichkeit. Es ist ein emotionaler Zustand der Ekstase, der jemanden über seine normale Gefühlslage hinaushebt. Das kann in der Sexualität, bei Drogen- oder Alkoholkonsum und in der Entfaltung eines Arbeitsflusses geschehen, der uns «wie im Rausch» kreativ sein und schaffend wirken lässt. Der Rausch ist das Mitreißende, das Ungewöhnliche und Herausgehobene in der Normalität. Er ist etwas, dass uns eine Art der Vergewisserung schenkt, dass wir lebendig sind. Rausch als Intensiverfahrung gehört zu jedem Leben, ganz gewiss jedoch zur Kunst. Er wird zur Gefahr, wenn er zur Weltflucht und zur Sucht wird. Zu echter Kunst gehört immer auch ein Element des Rausches oder der Ekstase. Kunst sucht die Grenze und die Tiefe, um sich nicht an der Oberfläche der Welt zu verlieren.
«Man muss noch Chaos in sich tragen, um einen tanzenden Stern zu gebären»,
hat Friedrich Nietzsche in «Also sprach Zarathustra» (1886) so wunderbar poetisch formuliert. Selbst wenn Friedrich Nietzsche ein Christenschreck seiner Zeit war und das konventionelle Christentum schwer angriff, können wir von seinen scharfsinnigen Analysen angepasster Mentalitäten viel lernen. Man könnte es heute auch so sagen: Man muss manchmal etwas «verrückt» sein und von den Regeln und Gepflogenheiten abweichen, um etwas Künstlerisches zu schaffen. Kunst will das Gewöhnliche durchbrechen und etwas Höheres in die Niederungen des Daseins bringen. Was wäre unsere geordnete Welt ohne tanzende Sterne? Was wäre Kunst ohne den Rausch der Sinne, ohne die Verwandlung von Chaos in Sinn und Ordnung oder andersherum ohne die Verwandlung lebloser Ordnungen in ein belebendes Chaos? Kunstschaffende suchen deshalb von ihrem Wesen her immer das Spiel der Kräfte, den Rausch des Schaffens, die Berührung mit der Intensität. Sie können nicht einfach nur Verwalter von Formen, Sätzen und Gedanken sein. Sie müssen von ihnen ergriffen und fortgerissen werden.
«Religiöse Erfahrung ist wie Kunst ein authentisches und unverfügbares Erleben der Wirklichkeit Gottes. Wer sie nur covert, erlebt nur die Oberfläche. Wer sie aber empfindet, durchlebt und erleidet, nimmt an ihrer Wirklichkeit teil.»