burner künstlerisch hochwertiges Piece
can Sprühdose
tags Rohform des Writing
signatur Unterschrift
aerosol-junkie Scherzhafte Selbstbezeichnung einiger Sprayer
character figürliche Elemente
crossen Übersprühen eines Piece
fame Bekanntheit, Ruhm, Anerkennung
Die S-Bahn ist für mich sowas wie eine Zeitmaschine. Streng genommen ist der Begriff nicht wirklich zutreffend, da der Faktor Zeit unverändert bleibt. Ich brauche 50 Minuten von der Provinz bis ins Herzen der Stadt Zürich. Daran ändert leider auch die S-Bahn nichts. Sie ist mehr so eine Von-Bubble-zu-Bubble-Maschine. Das trifft es eher. Ich werde von ihr in der einen Welt eingesogen und in einer komplett anderen wieder ausgespuckt. Hier: Getrimmte Hecken, akkurate Steingärten und gekehrte Vorplätze. Aufgeräumter als unser Wohnzimmer. Dort: Beton, Urban Gardening in alten Tonnen und Graffitis überall. Unaufgeräumte Kreativität in knallbunten Farben. Auf dem Weg vom Bahnhof Hardbrücke bis zum Office wurde alles irgendwann mal zur Leinwand von irgendjemandem. Laternenpfähle, Stromkästen, Züge, Papierkörbe und Hausfassaden. Gesprayte Zeichen und Botschaften, entstanden bei Nacht und Nebel an verbotenen Orten. Dann, wenn die draussen in der Provinz längst friedlich schlafen. (Dass es kaum illegale Sprayer gibt, die älter als 21 sind, hat wohl mit dem Jugendstrafrecht zu tun.)
Ist das Kunst oder Vandalismus? Das kann man so oder so sehen. Als Sachbeschädigung, die in Deutschland einen geschätzten, jährliche Schaden zwischen 200-500 Millionen verursacht. Oder man sieht darin Kunst, die Farbe an Orte bringt, die es nötig haben. Und ohne Museum auskommt.
Als ich einmal mehr am Bahnhof Hardbrücke ausgespuckt werde und mich auf den Weg zum Office mache, fällt mir der gesprayte Verschnitt einer Meerjungfrau und einer Rakete unter einer Autobahnbrücke ins Auge. Ich frage mich als erstes, wie man es überhaupt schafft, mit der Spraydose dahin zu kommen. Als zweites liegt – zumindest für ein erwachsenes, christlich sozialisiertes Kind wie ich es bin – der Vergleich zu einer alttestamentlichen Geschichte nahe. Ich schweife also gedanklich in die Geschichte ab. Während eines Gastmahls des babylonischen Regenten Belsazar erscheint ein Satz in Leuchtbuchstaben an der Wand. Das volle Special-Effect-Programm. Rembrandt hat die Szene des geheimnisvollen Graffitis und der erstaunten Gästeschar übrigens um 1635 mit Öl auf Leinwand gebracht. Heute hängt es in der National Gallery in London. Zurück zu Belsazar, der ratlos vor der Wand sitzt und seine Schriftgelehrten ruft, die ihm die Schrift an der Wand deuten sollten. Weil die keinen blassen Schimmer haben, wird der Prophet Daniel gerufen. Er liest: «Mene mene tekel u-pharsin» und deutet dies als Untergangs-Prophezeiung des Reiches Belsazars. Noch in dieser Nacht wurde Belsazar totgeschlagen.
Nein, ich sehe nicht in jedem Piece zwischen dem Bahnhof Hardbrücke und meinem Office eine Prophezeiung meines persönlichen Schicksals. Und zu viel in die Raketenmeerjungfrau hinein zu interpretieren lasse ich mal lieber bleiben. Und doch. Die Künstlerin Swoon zum Beispiel, versteht die Wände der Stadt als «öffentliche Resonanzböden», welche die Themen der Menschen lauter zum Klingen bringen, wie sie in einem Interview sagte.
Mit diesem Bewusstsein stehe ich vor der knallbunten «Schrift an der Wand» unter der Autobahnbrücke und spitze also doch meine Ohren. Was ich heute höre: Street Art ist unaufgeräumt, veränderbar und deshalb vorläufig. Darin gleicht sie meinem Glauben an Gott. Er ist in erster Linie Beziehung, die wächst und sich ständig wandelt. Da wird auch manchmal etwas überschrieben, verblasst oder reagiert auf das, was im Leben gerade passiert. Ich will meine Energie nicht dafür verwenden, meine Gottesbeziehung mit der Heckenschere provinzpassend zu machen. Denn sie ist nicht fürs Museum, sondern für mein Leben zwischen Dorf, S-Bahn, Arbeit und Atmen gedacht.