Ich streife nach einem sitzlastigem Tag im Homeoffice durch unseren Wohnort. In der Bahnhofsunterführung kommt mir ein Mann in Arbeitskleidung entgegen. Aufgrund der Farbe des T-Shirts und des aufgestickten Logos kann ich ihn dem Baumarkt um die Ecke zuordnen. Na dann, schönen Feierabend, wünsche ich ihm nur in Gedanken, da Augenkontakt und Grüßen in diesem Quartier eher vermieden wird.
Die Unterführung lichtet sich und beim Ausgang angekommen erlebe ich fast schon ein Déjà-vu. Eine Frau, ebenfalls in Kleidern eines Baumarktes, kreuzt meinen Weg. Aber in diesem Fall von der zweiten Kette, welche hier in Gehdistanz ebenfalls eine Filiale besitzt. Sie arbeitet also quasi für die Konkurrenz. Sie grüßt knapp und versteht offensichtlich meine Irritation sowie das darauf folgende Schmunzeln nicht. Ich kann es ihr nicht verübeln, denn sie kann ja kaum meine Gedanken lesen und die darin entstehende herzerwärmende Geschichte.
Mein Kopf ist nun so richtig aktiviert und umreißt den möglichen Plot: Sie (von Baumarkt A) trifft zufällig auf dem Zug nach Hause Ihn (von Baumarkt B). Ihre müden Blicke nach einem intensiven Arbeitstag treffen sich im Zugabteil und beide sind sich irgendwie sympathisch. Doch das Problem liegt auf der Hand: Dieser möglichen Liebesbeziehung steht das Konkurrenzverbot im Weg. Ich seh das Filmplakat schon bildlich vor mir und überlege mir ob «Bauprojekt Liebe» ein guter Titel wäre.
Ich mag diese ausschweifenden Brainstorming-Momente, wenn die Gedanken kreisen und Geschichten gesponnen werden.
Fantasie – eine der zahlreichen Fähigkeiten des menschlichen Gehirns. Vielleicht auch unser Alleinstellungsmerkmal gegenüber Tieren oder auch Maschinen?
Etwas so denken zu lassen wie ein Mensch – nicht erst seit der Erfindung des Computers ein Thema. In den letzten zehn Jahren kam die Forschung rund um künstliche Intelligenz – kurz KI – einen grossen Schritt weiter. Von der Weltherrschaft der Roboter sind wir aber noch weit entfernt. Immerhin: Seit gut zehn Jahren kommt KI-Forschung weg vom Schachspiel und fokussiert sich auf sogenannte neuronale Netze und Sprachverarbeitung – Siri & Alexa lassen grüssen. Und auch in der Kunstszene findet KI rasant Einzug. Im Oktober 2018 wurde zum Beispiel im Aktionshaus Christies das von einer Künstlichen Intelligenz kreierte Kunstwerk «Edmond de Belamie», für 432500 Dollar versteigert.
Seit Mai 2020 macht auch das sogenannte Sprachverarbeitungsmodell «GPT-3» immer mal wieder Schlagzeilen. Dieses kann Texte erstellen, zusammenfassen, vereinfachen oder auch übersetzen. Im Podcast von Central Arts Schweiz haben wir etwas vertiefter darüber gesprochen und es konkret ausprobiert1.
Algorithmen, welche selbständig Entscheidungen treffen, Menschen zu imitieren versuchen, können Angst machen und düstere Zukunftsbilder malen. Spannenderweise aber auch eine naive Begeisterung und Spielfreude auslösen. Ich ertappe mich häufig, wie ich davon fasziniert bin, was diese «Maschinen» bereits können und wo es noch zu lustigen aber unbrauchbaren Ergebnissen kommt. Denn solche Systeme sind immer nur so schlau, wie das Ausgangsmaterial, also die Trainingsdaten, welche ihnen zur Verfügung stehen. Und so werden die scheinbar intelligentesten Algorithmen schnell mal rassistisch oder auch sexistisch.
Zurück zu unserem Gehirn und dem kreativen Denken. Boris Nikolai Konrad ist Neurowissenschaftler und mehrfacher Weltmeister im Gedächtnissport. Auf die Frage, was unser Gehirn braucht um kreativ zu sein2, meinte er:
«Freiraum, mal woanders hindenken zu können. (…) Beim Arbeiten und Lernen den Raum lüften, Wasser trinken, ein bisschen bewegen – das bewirkt bereits viel.»
Das lüften und bewegen nehme ich mir zu Herzen und biege auf meinem Abendspaziergang rechts ab. Später im Schlaf wird die Begegnung mit den Baumarktangestellten in meinem Hirn zur Weiterverarbeitung abgelegt und vorläufig gespeichert. Stoff für einen Menschen oder eine Maschine? Aktuell nimmt mir diese Geschichte wohl noch kein Algorithmus ab. Hey Siri, schlaf gut.
1 Folge 20 von Central Park: «Fatale Geräusche»
2 Brainstorming. 300 Fragen ans Gehirn – Barbara Schmutz
Blogtext anhören