«Wenn es mir wieder gut geht…»

Ich erkläre hiermit hochoffiziell: Mir geht es wieder gut. Dabei ist es nicht etwa so, dass es mir zuvor durchwegs schlecht ging. Es gab in den letzten anderthalb Jahren sehr viel Gutes und ganz viele schöne Momente. Trotzdem fehlte da immer etwas ganz Entscheidendes. Doch jetzt fühle ich mich endlich wieder komplett. Ich habe sie wieder: die Live-Musik!

Gleich mehrfach durfte ich sie in den letzten Tagen und Wochen wieder genießen. Einerseits als Musiker auf der Bühne selber und andererseits als Zuschauer an einem grossen Openair-Konzert. Mannomann, hat das gut getan!

Ich sah unter anderem Menschen mit geschlossenen Augen und Weingläsern in der Hand tanzen (ich wiederhole: tanzen! Ja, echte Menschen! In der Schweiz!! TANZEN!!!).

Und ich sah mir selber zu, wie ich inmitten eines Publikums zunächst mit meinem Kopf nickte, dann wippte und irgendwann schließlich tanzte. Es war fast schon eine außerkörperliche Erfahrung so nach eineinhalb Jahren Abstinenz.

Dieses wunderbare Gefühl, wenn ich nach einem Konzert vom Echo der Melodien in mir drin, den bleibenden Bildern (oft übrigens Gesichter von fröhlichen Menschen) und ein paar guten Text- oder Gesprächsfetzen nach Hause begleitet werde, zählt für mich zu den schönsten Erlebnissen des irdischen Daseins. 

Kein Wunder fühle ich mich aktuell gerade wiederhergestellt. Und noch was: Mir wurde die Reziprozität von Künstler und Publikum so bewusst und so lieb wie noch nie. Will heissen: Es spielt keine entscheidende Rolle, wer auf und wer neben der Bühne steht. Denn erst die Wechselseitigkeit beider Partner macht Live-Musik zu einem so besonderen Erlebnis.

Nick Cave, dem der Austausch mit seinen Fans so wichtig ist, dass er dafür eigens die Website theredhandfiles.com ins Leben rief, sagte einst über seine Beziehung zum Publikum:

«Wir nehmen uns gegenseitig an die Hände und bewegen uns über uns hinaus zu einem höheren Ort der geistigen Wechselseitigkeit, um uns dadurch gegenseitig wiederherzustellen.»[1]

Er beschreibt Live-Auftritte zudem als Prozess, während dem er sein Ego und seinen Eigennutz ablegt, um sich bestmöglich seinem Publikum zu öffnen.

Ich meine gerade aktuell diesen Prozess, diese Verletzlichkeit bei ganz vielen Künstlerinnen und Künstlern auf Bühnen besonders gut mitverfolgen zu können. Da drückt eine große Portion Dankbarkeit – fast schon Ehrfurcht – durch, überhaupt ein Publikum zu haben, mit dem man gemeinsam etwas Besonderes erschaffen darf. 

Es greift aus meiner Sicht deshalb auch zu kurz, Bühnenmenschen per se einen ausgeprägten Egozentrismus zu unterstellen, wie ich das immer wieder zu Ohren bekomme. Vielmehr wird doch gerade jetzt die Übereinkunft deutlich, welche das Publikum mit der Person auf der Bühne trifft: Du schaust stellvertretend für uns in diese Welt hinaus, fühlst, verarbeitest und präsentierst. Und wir reagieren entsprechend darauf.

Der Deal gilt selbstverständlich auch anders herum: Die Energie, welche Künstlerinnen und Künstler vom Publikum erhalten, dafür dass sie sich exponieren, gibt ihnen wiederum die nötige Motivation, um die eigenen Gefühle in den Wind des aktuellen Weltgeschehens zu hängen. Das hat zunächst einmal nichts Egozentrisches an sich, sondern eben: etwas Wechselseitiges, Ergänzendes. 

Das gilt im Übrigen auch für die Kirchen und die Gottesdienste, die darin stattfinden. Nicht selten ist da, gerade wenn es um Bühnen geht, eine grosse Vorsicht oder gar Irritation zu spüren. Das ist insofern nachvollziehbar, als dass Gott und nicht ein Mensch im Zentrum stehen soll.

Nüchtern betrachtet helfen Bühnen jedoch in erster Linie einfach, den Kern einer Sache noch sichtbarer zu machen, wovon letztlich die Gesamtheit profitiert.

Wenn ich beispielsweise in Nehemia 8 lese, dass das Volk Gottes beim ersten Gottesdienst nach Jahren des Exils in Jerusalem besonders berührt war, dann fällt mir dabei auch auf, dass «eigens dafür» eine Bühne errichtet wurde, damit so viele wie möglich hören und sehen konnten, was der Priester Esra zu sagen hatte (V3–5). 

Und das Resultat des erwähnten Gottesdienstes? Ein feierndes Volk und die bis heute viel zitierte Erkenntnis, dass die Freude am Herrn unsere Stärke ist (V10). Getextet und verbreitet wurde sie von den Leviten – viele davon übrigens gut ausgebildete Sänger. Ich kann mir also sehr gut vorstellen, dass diese Message damals in Jerusalem in irgendeiner nicen Hook ihren Niederschlag fand. 

Ob nun zur Ehre Gottes oder einfach um der Schönheit des Lebens willen: Ich wünsche uns allen, dass wir in nächster Zeit Teil dieser einzigartigen Wechselseitigkeit zwischen Bühne und Publikum werden dürfen. Dass dabei der Gedanke an Eitelkeit oder Ungleichheit nicht im Geringsten eine Rolle spielt. Dass es nicht darauf ankommt, wer auf und wer vor der Bühne steht. Und dass wir uns in diesem Miteinander wiederherstellen lassen.

Das erste Konzert nach meiner mehrmonatigen Pause war übrigens das des Schweizer Singer-Songwriters David «Dabu» Bucher. Er spielte dabei auch seine aktuelle Single. Darin heisst es:  «Wenn es mir wieder gut geht, dann werde ich für euch singen, bis es euch wieder gut geht.» Und weiter: «Wenn ich dann wieder down bin, dann höre ich im Traum, wie ihr gesungen habt und dann singe ich, bis es mir wieder gut geht. Und wenn es mir wieder gut geht, dann werde ich für euch singen.»

Besser kann man es nicht ausdrücken. Danke, Dabu, dass du für mich gesungen hast. Mir geht es wieder richtig gut.

 

[1] «Nick Cave describes a typical Nick Cave fan» – nme.com

 

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