Irgendein zeitgenössischer Maler – leider habe ich keinen Schimmer mehr, wie er
heisst – wurde in einem Zeitungsinterview gefragt, woher er seine Ideen nimmt. Nicht sonderlich geistreich, die Frage der Journalistin. Die Antwort des Künstlers hingegen hat mir gefallen. Ich habe sie mir – im Gegensatz zu seinem Namen – ins Handy getippt.
Woher kommen nun also Ihre Ideen, Herr Künstler?
«Das läuft bei jedem Bild anders. Das geht von Frauen über Typen an der Ecke bis zu kubanischer Architektur und dem Beobachten von Enten im Park. Der beste Stoff kommt direkt aus dem Leben. Man kann sich nicht den ganzen Tag verkriechen und erwarten, dass die Scheiss Muse von allein reinschneit. Sie ist ein hungriges Misststück, dass man mit gutem Stoff füttern muss.»
Zugegeben, der Typ hat eine rohe Sprache. Aber mir gefällt seine Haltung. Es fällt selten etwas einfach so vom Himmel. Auch nach den Dingen, die uns zufallen, sollten wir Ausschau halten.
Unter der Bettdecke sieht man nun mal keine Sternschnuppen.
Ich will eine Schülerin des Sehens sein. Wahrnehmen, was anderen nicht auffällt. Da stehen bleiben, wo andere vorbeigehen. Ich will mit allen Sinnen staunen. Wir nehmen die Menschen und Dinge nur dann nicht mehr wahr, wenn sie uns zu vertraut sind und zur Selbstverständlichkeit geworden sind.
Unsere Gewohnheiten sind die Feinde der Kreativität,
sagt der Schauspieler Ethan Hawke in seinem Ted Talk. Ich höre darin eine Antithese zum Rat der zig Millionen Life Coaches. Sie sagen uns derzeit ja, dass wir uns Routinen aneignen sollten. (Oder besser noch: Einfach diejenige der zehn effektivsten, erfolgreichsten und zufriedensten Menschen auf diesem Planeten übernehmen.) Morning und Daily Routines in allen Ehren. Als eine, die mit Kindern zusammen lebt weiss ich sehr gut, wie hilfreich, ja überlebensnotwendig, dass Rituale und eingespielte Abläufe sein können. Völlig außer Frage. Wenn es um Kreativität geht, bin ich jedoch ganz bei Ethan. Was regelmässig ist, wird vorhersehbar. Was so ist wie erwartet, braucht keine besondere Aufmerksamkeit, wir reagieren darauf mit einem unbewussten Schema. Automatismen lassen uns unaufmerksam werden. Das wiederum macht uns blind für alle Funken, die zu Ideen werden könnten.
Jedes Mal, wenn ich nach einer Joggingrunde oben an der steilen und ewig langen Treppe stehe, die den Wald mit meinem Wohnquartier verbindet, erfahre ich, dass die These stimmt. Die Stufen variieren in Höhe und Tiefe. Unregelmässiger könnten sie nicht sein. Runtertrippeln aus dem Effeff geht nicht. Ich muss echt bei der Sache sein, damit die Infos vom Auge ins Gehirn gelangen und meine Beine und Füße auf die Ungleichheit akkurat reagieren. Ansonsten würde es mich aber so was von runterknallen. Das Unregelmäßige zwingt mich, die Stufen bewusst zu nehmen – zeitlich und örtlich da zu sein, wo ich auch tatsächlich bin.
Auf einer Studienreise in Israel habe ich erfahren, dass auch die Stufen zum Tempel hinauf bewusst verschieden gebaut wurden. Ganz praktisch diente das als Sperre für Esel und andere Vierbeiner, die man oben nicht haben wollte. Die Menschen hielt die fehlende Kontinuität davon ab, gedankenverloren zum Tempel hinaufzugehen. Dasselbe Phänomen. Bei mir im Zürcher Unterland zufällig erfahrbar, einfach weil die Treppe kacke gebaut wurde. Im früheren Jerusalem wollten die das so. Aus gutem Grund. «Achtsamkeit» – würden wir es heute wohl nennen.
Die Muse füttern wir nicht mit gleichförmigen Tagen und ausgetrampelten Pfaden.
Also warum nicht mal stehen bleiben und die Enten im Park beobachten? Einen fremden Menschen ansprechen, den Wecker 43 Minuten früher als sonst stellen, anderes Essen bestellen als üblich und dazu unbekannte Musik anhören? Einen anderen Weg nach Hause wählen, auch wenn er länger ist. Es könnte sein, dass wir auf diese Weise wieder zu Sehenden werden und wir mitten in unserem Leben den «besten Stoff» für unsere Kunst erkennen. Ich will in meinem Alltag unregelmäßige Stufen einbauen. Damit ich nicht durchs Leben trabe und plötzlich feststelle, dass ich bereits oben angekommen bin. Ich will mich aus dem Trott bringen, damit ich schauen muss, wo ich hintrete. Die Funken, Ideen, das Futter für die Muse — liegt alles dort auf der Stufe.