Heute habe ich mich an einen bestimmten Moment erinnert. An einen Abend voller Musik und Improvisation in einer Zürcher Kirche. Das liegt Jahre zurück. Der Gedanke daran fühlt sich aufs Erste falsch an.
Während andere ganze Lastwagen mit Hilfsgüter für die Ukraine beladen oder zu Hause Platz machen für die, die nach der Flucht bei uns ankommen werden, denke ich an Musik?
Wenn ich den gängigen Rat von Psychologen richtig verstehe, soll man Gedanken und Gefühle ja einfach mal unbewertet in Empfang nehmen, anstatt die, die man nicht für gut befindet, sofort wegzudrücken. So mache ich das also trotz allem auch mit dieser Erinnerung, die ungefragt auftauchte.
Meine Gedanken reisen zurück zu einer «Kingdom Come Night» von Central Arts. Das sind eineinhalb Stunden voller Gebet und Musik. Wir richten uns da experimentell auf das aus, was im Moment entsteht, suchen neue Sounds und Worte. Alles improvisiert. Wir wissen also nie, wohin die Reise geht. Meist starten wir mit einer Stille. Auch diesen einen Abend eröffneten wir mit Stille. Nach einer Weile des akustischen Vakuums, begann der Bassist zu spielen. Eine improvisierte Melodie, die genau dorthin gehörte. In dieses Nichts. Der erste Ton, der die Stille brach, kam brüchig daher. Vielleicht weil er einem Schritt aufs Wasser gleichkam und den Spieler Mut gekostet hat. Bereits beim vierten Ton kamen mir die Tränen. Das war eine Melodie – aus der Stille heraus gewachsen – in die ich mich sofort hineinlegen konnte.
Dem Rat der Psychologen weiter folgend, lasse ich die Erinnerung daran nun weiterziehen. Vielleicht verschwindet sie auch nur, weil ich mich wieder durch die Newsartikel klicke. Die unzähligen Initiativen, die Soforthilfe und der Aktivismus der letzten Tage beeindrucken mich. Unglaublich schön zu sehen, welche Welle von Mitgefühl und Taten da anrollt. Es lässt uns alle nicht kalt.
Je ohnmächtiger ich mich in diesen Tagen fühle, desto stiller werde ich.
Und vielleicht ist das auch ok.
Vielleicht sind die geschwiegenen Sätze manchmal die besten, die wir je gesagt haben. «Weil auch nichts zu sagen was sagt und ganz schön laut ruft», wie das Marco Michalzik in seinem Spoken Word, das ich erst gestern live gehört habe, ausdrückte. Die Zeilen hallen in mir auch einen Tag später noch nach.
In der Bibel wird im Buch Prediger von «einer Hand voll mit Ruhe» gesprochen. Das ist nicht viel. Aber immerhin. Diese eine Portion nehme ich gerne. Nicht, damit ich hier ein bisschen besser schlafen kann. Ich nehme die Hand voll Ruhe, damit daraus vielleicht etwas entsteht. Damit ich den ersten brüchigen Ton spielen kann. Heute ist mein erster Ton ein Gebet. Die «Ursprache. Notsprache. Sprachlossprache. Weltsprache. Fürsprache. Zwiesprach von Seele und Du» wie die Theopoetin und Schriftstellerin Christina Brudereck das Gebet kürzlich in ihrem Social Media Post bezeichnet hat.
«Künstlerinnen und Künstler halten ihre Seele in den Wind des Alltags, schauen, woher er weht und was er mit ihnen macht. Diesen Emotionen geben sie eine Form, die oft auszudrücken vermag, wofür wir noch keine Sprache finden konnten.» So haben wir das als Central Arts im Zusammenhang mit einem Kunstprojekt mal formuliert. Genau deshalb bleibe ich still und leihe mir Worte von denen, die Formen finden. Das ist nicht feige. Das ist nur wissen, was man vermag und was nicht. Das ist, in der eigenen Sprachlosigkeit das Geschenk der Kunst anzunehmen. In diesem Sinne: Danke Marco Michalzik, danke Christina Brudereck, dass ihr Worte findet.
Von Christina Brudereck:
Beten
Wünsche haben für diese Welt.
Laut und leise unsere Hoffnung äußern.
Verbundenheit erleben und wie die Gleichgültigkeit schmilzt.
Menschlich werden vor Gott.
Das will ich. Das versuche ich.