Halb leer oder ganz?

Ich dachte lange, ich sei eine Optimistin, bis ich mit dem Erwachsen- und Älterwerden begriff, dass mehr Pessimismus in mir steckt, als mir lieb ist. Oder dass der Optimismus, den ich zu besitzen glaubte, nur ein Privileg meiner Jugend in den Neunziger- und Nullerjahren war. Eigentlich würde ich noch heute lieber zu den Menschen gehören, die auf dem Sonnenplaneten leben und für die das Glas immer halbvoll ist. Nun bin ich aber leider keine Frohnatur.

Hoffnung riecht in meiner Nase schnell billig. Das Gute zu sehen, tönt in meinen Ohren schnell ignorant. Wunderglaube fühlt sich in meiner Hand schnell nach einer Abkürzung an.

Ich habe dem Ansatz mit dem halbvollen Glas lange Verdrängung und Verkürzung vorgeworfen. Ich denke fast, ich habe das Bild erst in den letzten Wochen so richtig verstanden. Oder treffender: Ich habe mich damit versöhnt. Das Glas halbvoll zu sehen heißt nicht, sich des leeren Teils nicht bewusst zu sein. Ich kann das abgrundtief Ungerechte und bis zum Himmel Stinkende im Blick haben und doch ein halbvolles Glas sehen. Schmerz aushalten aber das Schöne betonen. Das, was Leben hervorbringt. Das, was durch den kleinen Riss noch immer vom Himmel zu sehen ist. 

Das Glas ist ist nicht halb leer. Auch nicht halb voll. Es ist halt einfach. Und es bleibt immer da. In seiner Funktion: sich füllend, tränkend.

Eigentlich verhält sich die Sache mit dem Glas ähnlich wie die mit dem Mond. Warum ich hier Bilder vom Mond und Gläsern bemühe? Das ist ganz einfach. Das Glas kam durch ein Gespräch, der Mond durch ein Lied zu mir.

Vor einem halben Jahr ist Jonathan Schmidt mit dem «Abendlied» auch bekannt als «Der Mond ist aufgegangen» von Matthias Claudius um die Ecke gekommen. Als er es anstimmte, ging so was wie ein schmunzelndes Raunen durch den Raum. Man hörte die verwunderten Gesichter stumm fragen: «Ein Schlaflied für Kinder?» (Claudius zu seiner Zeit wurde übrigens in ähnlicher Manier nicht ganz ernst genommen. Für Goethe war dieser Claudius ein Einfaltspinsel. Aber am Ende hat dieser ihn übertrumpft. Sein «Abendlied» ist das meist gedruckte Stück Deutsche Lyrik.) 

Zurück zu Jonathan. Den kenne ich nun schon eine ganze Weile. Deshalb weiss ich: Wenn er bei der Songauswahl ein Lied ausgräbt, das auf’s Erste leicht irritierende Reaktionen (ich nehme mich da selber nicht aus) hervorbringt, sollte man sich besser darauf einlassen und zweimal hinhören und -fühlen. Die Erfahrung hat das mehrfach bestätigt.

«Seht ihr den Mond dort stehen?»,

fragt der Lyriker uns alle.

«Er ist nur halb zu sehen / Und ist doch rund und schön!»,

stellt er beim Blick auf den Halbmond fest und schließt vom Himmelskörper auf unsere beschränkte Wahrnehmung des Ganzen:

«So sind wohl manche Sachen / Die wir getrost belachen / Weil unsre Augen sie nicht sehn.» 

Gerade wenn es nicht den Anschein macht. Wenn es verdächtig nach halb leerem Glas stinkt in der Welt. Wenn uns die Mutlosigkeit so gelegen käme. Dann erinnern diese Zeilen uns Singende daran, dass der Mond und andere manchmal unsichtbare Dinge in Wahrheit hell, ganz und vollkommen sind. Das ist und bleibt die in den bald 250 Jahren viel zitierte und vertonte Hoffnung.

Kommt diese Hoffnung als ein haariges ABER oder ein rotziges DENNOCH daher, ist sogar die Pessimistin in mir wieder mit am Start. Sie weiss, dass sie nicht alles sehen kann vom Ganzen. In diesem Sinne hoffe und glaube ich weiter.

 

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