Falls du regelmäßig auf diesem Blog hier anzutreffen bist, dann weißt du’s bereits. Falls nicht, dann weißt du’s jetzt: Es gibt wenige Themen im Leben, die mich so antreiben, wie die Suche nach Ereignissen.
Andere suchen Muscheln am Strand, Kristalle in den Bergen, Pilze im Wald oder Fehler in Zeitungsartikeln. Ich für meinen Teil suche Ereignisse (zugegeben, ich suche mit großem Vergnügen auch Fehler in Zeitungsartikeln – das ist aber heute nicht das Thema).
Ereignisse also – diese Geschehnisse, die das Potenzial in sich tragen, unser alltägliches Erleben als etwas Bemerkenswertes zu unterbrechen* – ziehen mich magisch an. Sie sind wahrscheinlich auch der Grund, weshalb ich in der Kunst gelandet bin. Weil sie in potenzierter Form das Auftreten von Ereignissen in sich trägt.
Mit Freude darf ich heute verkünden: Erst kürzlich wurde ich selber wieder Teil eines solchen. Erwartet hatte ich es keineswegs. Weshalb denn auch? Beim Chorkonzert der örtlichen Schule. In der örtlichen Kirche. In unserem Kaff im Nirgendwo. Organisation irgendwer. Ambiente irgendwas. Akustik irgendwie.
Doch mein weitaus größtes Problem im Raum: Nicht irgendwer, sondern ich selbst.
Weil ich ja «ach so viel» weiss. So ganz generell über das Leben und über Ereignisse im Speziellen. Und weil ich blitzschnell und messerscharf analysieren kann. Ich merke schnell, wenn ich in einem Raum wenig bis nichts zu erwarten habe. Ich war also bereit, den Pflichttermin über mich ergehen zu lassen.
Denkste!
Keine dreissig Minuten später sass ich da auf meiner unbequemen Kirchenbank – wir hatten noch nicht einmal Halbzeit! – und heulte Rotz und Wasser. Ein ukrainisches Mädchen, das mit seiner Mutter in unserem Dorf Zuflucht gefunden hatte, spielte auf seinem Cello ein Lied. Nicht alle Töne saßen und das Lied kann ich eigentlich auch nicht mehr hören. Dennoch berührte es mich wahnsinnig stark.
Doch selbst in diesem entscheidenden Moment, der die Vorführung für mich definitiv in ein denkwürdiges Ereignis verwandeln würde, fuhr ich immer noch sämtliche kritischen Sensoren aus, klammerte mich fest an meine jahrelang verfeinerten Analysefähigkeiten. Man darf sich schließlich niemals kampflos ergeben!
Ist das hier wirklich ehrlich gezeigte Solidarität? Ein Zeichen dafür, dass dieses Mädchen in unserer Gemeinschaft willkommen ist? Wird es dadurch wirklich ermutigt? Ist es die richtige Form? Der richtige Ort? Oder dient der Moment dem Publikum einfach nur als willkommenes Ventil, um die eigene Beklemmung angesichts dieses unsäglichen Krieges loszuwerden? Ist das hier offensichtliches musikalisches Talent? Oder werde ich hier alleine von meinen Emotionen aufgrund dessen, was ich in den News gesehen habe, manipuliert? Und sowieso: Reiss dich zusammen, das hier ist einfach nur das Chorkonzert der Schule, von dem du eigentlich nichts zu erwarten hattest!
Ich hätte noch lange herumhirnen und weiterargumentieren können. Ich hätte wohl auch immer noch irgendeinen Grund gefunden, der mich davon abgehalten hätte, diesen Schlüsselmoment als solchen zu erkennen und zu akzeptieren. Doch ich ließ irgendwann einfach los. Und ließ zu.
Ich ruderte in meinem eigenen Tränenmeer davon, während sich mehrere Hundert Menschen in der proppenvollen Dorfkirche zu einer spontanen Standing Ovation erhoben. Die Tür war aufgestoßen zu einem Ereignis.
Zu einem wundervollen Konzert des Schulchors an einem ganz gewöhnlichen Tag in meinem unbedeutenden Kaff – an das ich mich aber noch ganz lange erinnern werde.
Was genau hatte das Ereignis vorbereitet? Wahrscheinlich ein Mix aus rührend schrägen Tönen von Kindern, Klatscheinsätzen auf der Eins und auf der Drei, dem musikalischen Talent eines Kindes und seiner außergewöhnlichen Herkunft. Wohl auch der Krieg, das versammelte Dorf in einer Kirche, dessen Applaus und die Standing Ovations, sicher auch die sorgfältig vorgenommene Liedauswahl und die Orchestrierung von Band und Chor. In einem anderen Fall hätten dieselben Faktoren das Ereignis wahrscheinlich aber genauso gut verhindert.
Genau darum geht es, ihr lieben Analysten, Kunstkritiker und Besserwisser da draußen (eigentlich meine ich also einfach mich). Dass wir im entscheidenden Moment loslassen. Und zulassen. Dass wir nicht überanalysieren. Dass wir die Unverfügbarkeit und damit auch die allzeitige Möglichkeit von Ereignissen anerkennen. Und dass wir uns ihnen trotz allen Umständen nicht unnötig verschließen. Diesen erinnerungswürdigen Momenten. Egal wann, wo und weshalb sie auftreten. Viel Erfolg beim Entdecken und Empfangen!
* sagt irgendein Synonymverzeichnis in irgendeinem Werk