Eine Liebeserklärung an Romane

Ich sitze mitten im Nirgendwo in Afrika unter einem Moskitonetz. Der Tag verabschiedet sich hier mit der Sonne so gegen 18.30 Uhr. Mein Phone ist aufgrund meines Abos ohne Datenmenge im Ausland hier plötzlich nicht mehr smart. Nachdem ich sämtliche Fotos auf dem Gerät gesichtet und aussortiert habe, fällt mir nichts mehr ein, was ich damit tun könnte. (Ich stehe nicht sonderlich auf Taschenrechner.) Also krame ich den alten E-Reader aus der Reisetasche. Zu Hause hatte ich mir, ohne gross zu überlegen, noch schnell drei Bücher auf das verstaubte Gerät geladen. Was für ein Glück! Geschichten, die sich offline lesen lassen – ich halte einen Schatz in den Händen.

Nach meiner Rückkehr meinte eine Freundin, sie habe es diesen Sommer nicht geschafft, etwas Richtiges zu lesen. Nur Krimis und so.

Liebe Freundin, lass ein Roman bitte «etwas Richtiges» sein!

«Etwas Lebensrettendes», hätte ich ihr unter diesem Moskitonetz sitzend sogar hinterhergeschrien. Ich tippe auf das E-Book und schon nimmt mich die Autorin Juli Zeh mit nach Unterleuten, ein fiktives Dorf in Brandenburg. Ab jetzt treffe ich mich jeden Abend mit diesen Dörflern, die dort in Ostdeutschland leben. Fast schon ein bisschen skurril. Weil, ihr erinnert euch: Afrika.  

Das unfreiwillige Digital Detox zwingt mich, zu lesen. So mitten im Alltag hätte ich mir den Roman von Juli Zeh wohl nicht zu Gemüte geführt, obwohl ich ihn schon lange lesen wollte. Oder ich hätte damit angefangen und wie so oft nach einem Drittel aufgegeben.

Gibt ja immer Besseres zu tun, als zu lesen. Netflixen beispielsweise. Viel besser. Bedeutend weniger anstrengend als ein Buch zu lesen.

Ich bin nicht gerade stolz darauf, das zuzugeben. Wir haben sie verloren, die Bücher. Oder sie uns. In dieser Sache bin ich ganz Kulturpessimistin. Die Aufmerksamkeitssteuerwaffen der Apps und des Netzes halten mich davon ab, meine Nase zwischen zwei Buchdeckel zu strecken. Die Konzentrationsspanne sinkt drastisch. Ihr kennt die Fakten bestimmt. Das ist mehr als schade. 

Der Astrophysiker Carl Sagan sagte:

«Was für ein erstaunliches Ding ein Buch ist. (…) Ein Buch ist der Beweis dafür, dass der Mensch in der Lage ist, Magie zu wirken.»

Zugegeben, etwas schwülstig, das mit der Magie. Aber irgendetwas ist da schon dran. Ich reise, obwohl ich mich keinen Millimeter bewege. Ich durchlebe Geschichten, obwohl ich nur Papier und Druckerschwärze in den Händen halte. Genau das suche ich doch, wenn ich ein Buch aufschlage:

Es soll sich etwas ereignen, das zwischen mir und diesem Buch geschieht und nicht allein in mir oder allein im Buch ist.

Ich lande also doch beim «Zauber». Ich hoffe darauf, dass ich das Buch in einem anderen Zustand zuklappe, als ich es aufgeschlagen habe. Da geht es mir bei Romanen gleich wie bei der Bibel. Ist doch schon erstaunlich: Über Jahrzehnte oder sogar Jahrtausende hinweg spricht ein Autor klar und leise in meinen Kopf. Das Geschriebene verbindet Menschen, die sich nie gekannt haben. 

Und da ist noch etwas. Romane entheben mich von der Pflicht, mich selbst zu sein. Sie bringen meine ständigen inneren Dialoge zum Schweigen. Der Vorwurf der Realitätsflucht dröhnt laut in meinen Ohren. Aber wisst ihr was? Ab und an brauche ich die Flucht in eine Geschichte, die nicht meine ist, um zu verhindern, dass die Realität mich lähmt.

Unter anderem darum kann Kunst uns stärken – weil sie unseren Horizont öffnet über das hinaus, was wir im Moment, bei grellem Tageslicht betrachtet, sind und tun.

Ist das legitim? Ist das verantwortungsvoll? Gegenfrage: Kann man 24/7 die Welt retten? Ich ziehe als Antwort Sibylle Bergs Aussage hinzu, die ich erst kürzlich im Podcast Hotel Matze gehört habe. Die Autorin formulierte den Auftrag an Kunstschaffende wie folgt:

«Gib den Menschen ne Pause! Und Hoffnung. Es gibt mehr als Marathon laufen und Wettbewerbe gewinnen.» 

Diesem Auftrag ist die Autorin Juli Zeh, in deren Geschichte ich jeden Abend tauche, nachgekommen. Ich nehme die Pause dankend an. Sie macht, dass ich morgen früh einigermaßen fröhlich unter dem Moskitonetz hervor in den neuen Tag krieche.

 

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