Farben sammeln

Meine siebenjährige Tochter saß letzte Woche auf dem Sofa und fuchtelte mit beiden Händen vor ihrem Gesicht herum. Das Ganze erinnerte mich irgendwie an eine Contemporary Dance Performance. Ich setzte mich zu ihr und sah sie erstaunt an. «Ich fange die Sonnenstrahlen ein», war ihre knappe Antwort auf meinen fragenden Blick. Da sah ich es auch. Aufgrund des tiefen Sonnenstandes (Oje, der Sommer ist definitiv vorbei) und des Staubs in der Luft (Staubsaugen wär’ mal wieder angesagt, I know) waren die Strahlen im Wohnzimmer zum Greifen nah. Ihre Hände schnappten in der Luft zu und stopften die unsichtbaren Strahlen in Richtung ihres Herzens. Sich einen Vorrat anzulegen, könnte nützlich sein für die nebligen Monate, die uns im Unterland bevorstehen. Also machte ich es ihr gleich und griff nach der Sonne. 

Die Szene führt mich zu ein paar naheliegenden Fragen:

Kann man Schönheit wie Paninibilder sammeln und in Stapeln aufbewahren? Wohlige Momente speichern? Klarheit konservieren und das gute Leben in der Luft packen und im Herzen versorgen? Geduld und Liebe in Gläsern einmachen? Göttliches einfangen?

Nur, um es wieder hervorzunehmen, wenn man es nötig hat, versteht sich. Das wäre ja durchaus praktisch. In Momenten der Verzweiflung ruckzuck die Zuversicht aus der Schublade ziehen. Mich im durchgetakteten Wochenplan an die Freiheit beim Nacktbaden in Korsika zurückfühlen. Während mal wieder ein Tornado im Kopf tobt, an den Punkt scrollen, an dem ich ganz genau wusste, wer ich bin und was ich will. Und vor allem, wer ich nicht bin und was ich nicht will. 

«Wir brauchen Menschen, die Farben sammeln und sie dann auch teilen.»

Das sagte der Musiker Jonnes im Rahmen eines Interviews während der Zusammenkunst 2020 und beschrieb auf poetisch pointierte Weise die Wichtigkeit von dem, was Kreative tun. In gewisser Weise beantwortet er damit meine Fragen nach der Haltbarkeit von Schönem und Gutem.

Mir gelingt das Sammeln längst nicht immer. Ein Glück, gibt es die Kunst. Oft habe ich das, wonach ich mich sehne nicht mehr vorrätig. Vielleicht, ja sogar sehr wahrscheinlich, hat es jemand anderes vor Jahren in einen Song, ein Bild oder eine Geschichte gepackt. Die Farben längst für mich eingesammelt.

Weil wir wissen, dass Schönheit rasch durch Hässlichkeit abgelöst werden kann und gute Momente manchmal die Ausnahme und nicht die Regel sind, halten wir ständig mit dem Handy drauf. Für mich keine wirkliche Lösung für mein Problem.

Von Maria, Jesu Mutter, heisst es in der Weihnachtsgeschichte kurz nachdem die Hirten bei ihr waren und ihr mal kurz den ganzen Plan erörtert haben:

«Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen.»

Mir ist schon klar, dass wir noch nicht Dezember haben. Und ich habe ehrlich keine Ahnung, wie das genau funktioniert mit dieser Art von «Behalten» und «im Herzen bewegen».  Aber irgendwie so wie Maria will ich es machen mit dem nächsten atemberaubend schönen Anblick in der Natur, Gottesmoment oder dem kleinen Glück, das mit der Tochter auf dem Sofa sitzt. Die Farben einschließen. Sie mir nicht mehr nehmen lassen. Als Grundrauschen in meinem Herzen hin und her schaukeln.

 

Blogtext anhören