Brechreiz-Theorien

«Kreativität: wie Sie das Unmögliche schaffen und Ihre Grenzen überwinden.»*

Bei so einem Buchtitel wird mir normalerweise reflexartig übel und ich muss den Brechreiz unterdrücken. Die überdimensionalen Versprechen, das Selbstoptimieren, das aus jedem Wort trieft, das geschürte Selbstverständnis, jede und jeder könne die Welt verändern und grosse Kunst schaffen, wüsste sie oder er denn nur um die folgenden «Steps». Verbieten sollte man Titel dieser Art! Und halt einfach nicht lesen. Mein Dilemma: Der Autor Mihály Csíkszentmihályi ist eine echte Koryphäe. Der ungarische Psychologe lehrte zeitlebens an Kalifornischen Universitäten, beschrieb bereits 1975 das sogenannte Flow-Erleben und gilt als der herausragendste Wissenschaftler auf diesem Gebiet. Dem Buch gehen vier Jahre Forschungsarbeit und Gespräche mit 91 kreativen Menschen voraus. Er bat diese zu beschreiben, wann und auf welche Weise sie kreativ sind.

Aus purem Interesse überliste ich mich also selber, indem ich den englischen Originaltitel suche. «Creativity: The Psychology of Discovery and Invention» Viel besser. Ganz in der «7 Schritte zum Erfolg»-Manier kommen hier also meine drei Punkte, die ich bei meiner Lektüre die besten und interessantesten fand:


1. Kreativität basiert auf einem dreiteiligen System: Domäne, Feld und Person

Kreative Menschen werden oft bewundert und für etwas ganz Besonderes gehalten. Wer tolle Songs schreibt, schöne Bilder malt oder herzzerreißende Gedichte verfasst, gilt bei den meisten als tiefgründige und interessante Person. Doch Kreativität ist keine geheimnisvolle Gabe, mit denen einige gesegnet sind und andere nicht. Es gibt bestimmte Umstände, die Kreativität in uns fördern. Schaut man um 1400 nach Florenz, sieht man, dass die toskanische Großstadt nur so vor künstlerischem Talent überquoll. Die Stadt bot die perfekten Lebens- und Arbeitsbedingungen für Künstlerinnen und Künstler. Lang vergessene Methoden der Architektur, Bildhauerei und Malerei wurden wiederentdeckt und kreative Berufe großzügig von der Stadt gefördert. Raum, Zeit, die richtige Gesellschaft, eine hohe Nachfrage, Cash und ein paar begabte Menschen also.

Kreativität entsteht, wenn sich drei Bereiche überschneiden: Domäne, Feld und Person. Die Domäne ist quasi die Kategorie, in der Kreativität auftauchen kann. Mathematik, Kommunikationsdesign oder Popmusik, um drei Beispiele zu nennen. Das Feld besteht aus all den Personen, die in der jeweiligen Domäne aktiv sind und Expertinnenwissen gesammelt haben. Der dritte Teil im Kreativitätssystem ist schließlich der Kreative selbst. Wenn er sich eine Domäne gewählt hat und mit dem Feld kooperiert, hat er alle Weichen für kreativen Erfolg gestellt.


2. Unsere Umgebung beeinflusst unsere Kreativität

Was Florenz in der Renaissance war, ist heute vielleicht New York, Berlin oder Barcelona: The place to be für aufstrebende Künstlerinnen und Künstler. Es scheint so, als bräuchten wir den Austausch mit anderen, um kreativ zu sein. Andererseits braucht es Ungestörtsein, um den ganzen Input in Ruhe verarbeiten können. Viele ziehen sich dafür gern in die Natur zurück. So schrieben z.B. die antiken chinesischen Dichter ihre Verse in zierlichen Pavillons auf kleinen Inseln, die Hindu-Gelehrten zog es in den Wald und auch die christlichen Mönche suchten sich zur inneren Einkehr friedliche Orte im Grünen. So schrieb z.B. der Komponist Franz Liszt über das kleine Dorf Bellagio in Italien, dass ihn die Natur dort so emotional berührte, dass er seine Gefühle musikalisch ausdrücken musste. Andere Kunstschaffende bevorzugen es, sich an möglichst sicheren und vertrauten Orten aufzuhalten, wenn sie sich konzentrieren wollten. So entfernte sich z.B. Johann Sebastian Bach nie weit von seiner Heimat in Thüringen und Albert Einstein arbeitete seine komplette Relativitätstheorie zu Hause am Küchentisch aus. Anscheinend geht es um eine Kombination aus anregender Gesellschaft und einem Rückzugsort.


3. Der kreative Prozess folgt einem konkreten Weg

Natürlich geht ein Maschinenbauingenieur beim Schaffensprozess nicht genauso vor wie eine Theaterregisseurin. Aber die vielen Gemeinsamkeiten lassen auf einen allgemeingültigen Weg schliessen. 

  • Vorbereitung: Die Künstlerin beschäftigt sich mit dem Problem und betrachtet es aus verschiedenen Perspektiven
  • Inkubationszeit: In dieser Phase arbeiten die verschiedenen Aspekte, mit denen sich der Kreative bisher beschäftigt hat, in seinem Unbewussten weiter.
  • Aha-Moment: Eine neue Idee oder ein Lösungsansatz taucht «wie aus dem Nichts» auf.
  • Es folgt eine Bewertung der neuen Idee: Ist sie umsetzbar? Sollte man sie weiterverfolgen?
  • Der fünfte und letzte Schritt ist schließlich die Umsetzung.


Zum Schluss ein Zitat des Autors: 

«Das tiefe Gefühl, Teil von etwas zu sein, das grösser ist als man selbst, kann man ausser durch Kreativität  wahrscheinlich nur durch Sex, Sport, Musik oder religiöse Extase erreichen.»

Falls du heute also eine sinnstiftende Erfahrung machen willst: Such dir was davon aus!

 

 

*Quelle: «Kreativität – wie Sie das Unmögliche schaffen und Ihre Grenzen überwinden» von Mihaly Csikszentmihalyi

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