Eine Bestandsanalyse: Ich, 37 Jahre alt, Kreativkopf und Kader in einer großen, internationalen Organisation, kann zwar gut Gruppen leiten und lesen, Menschen erkennen, Vision vermitteln, Konzepte schreiben, Initiativen ins Leben rufen und Großprojekte auf den Boden bringen, mich spielend leicht mit anderen unterhalten, kann aufmerksam zuhören, komme bei komplexen Gedankengängen intellektuell mit, kann mich eloquent ausdrücken und problemlos vor Menschen sprechen, kann relativ stilsicher in Prozessen oder bei Events Flow erzeugen und bin in der Regel für den Spaßfaktor in einer Gruppe verantwortlich.
Leider aber bin ich unterirdisch schlecht, wenn es darum geht, E-Mails zu beantworten oder eine Doodle-Umfrage auszufüllen. Und ja, bei WhatsApp kann es sein, dass du wochenlang keine Antwort von mir bekommst.
Dürfte ich hier einzig für mich eine persönliche Bilanz ziehen, wäre ich ziemlich zufrieden mit mir. Da ist doch ganz klar mehr auf der Haben- als auf der Soll-Seite. Leider jedoch kacke ich ausgerechnet bei den Gepflogenheiten unserer hiesigen Kommunikationskultur und der professionellen Arbeitswelt ab. Und das ist ein riesiges Problem. Denn anscheinend wäre genau das der Task, den es zu erfüllen gäbe! War ich auf dem Klo, als wir alle gemeinsam darüber abgestimmt haben?
Um mich herum wimmelt es nur so von ultraschnellen E-Mail-Schreiberinnen, in Sekundenbruchteilen zurückgesendeten Sprachnachrichten, wunderbar herausgeputzten Posteingängen und bis auf die Knochen mit Orga-Tools bewaffneten Teams. Nur mit mir will das irgendwie nicht so richtig klappen.
Ich liebe die Interaktion mit Menschen. Aber ich leide darunter, ausgerechnet im E-Mail-Zeitalter zu leben und scheinbar ständig auf allen möglichen Kanälen auf Zack sein zu müssen.
Natürlich kann das auch einfach als faule Ausrede eines freiheitsliebenden Punks abgetan werden, der sich einem längst bewährten System entziehen will. Wo kämen wir denn hin, wenn E-Mails plötzlich nicht mehr beantwortet würden? Sittenverfall! Ich verstehe es ja schon.
Es ist im Übrigen nicht so, dass ich nicht gerne besser wäre im Beantworten und Schreiben von Nachrichten oder in der schrittweisen Abarbeitung von Tasks in irgendwelchen Apps. Ich bewundere die Strukturierten und Optimierten unter uns, die das scheinbar spielend leicht hinbekommen. Fakt ist: Ich bin jetzt ungefähr in der statistischen Mitte meines Lebens angelangt und habe es bisher noch nicht zufriedenstellend geschafft.
Liegt es also einfach nur an mir?
Meine Künstlerkollegin Jaira Peyer hat das Problem auf ihre Art mit einem herrlich ehrlichen und befreienden WhatsApp-Status gelöst:
«Es liegt nicht an dir, sondern an mir, ich schreibe niemandem zurück.»
Wenn du also seit geraumer Zeit auf eine Antwort von mir wartest: Bitte entschuldige vielmals, es hat rein gar nichts zu bedeuten. Unsere beiden Sonnensysteme waren in letzter Zeit leider einfach nie zur selben Zeit am selben Ort. Vielleicht klappt’s ja irgendwann in der Zukunft. Wir bleiben dran.
In der Zwischenzeit versuche ich herauszufinden, ob es für Leute wie mich nebst dem kompletten Ausstieg auch sonst noch akzeptable Lösungen gäbe, um mit der Nachrichtenflut auf meinem Smartphone und dem täglich nachwachsenden Monster in meinem Posteingang fertig zu werden.
Vielleicht könnte es ein Ansatz sein, dass wir nicht alle über einen Kamm scheren. Dass wir nicht von allen dieselben Skills erwarten und uns stattdessen ergänzend betrachten.
Die harten, messbaren Fähigkeiten (also z. B. den Master in Excell oder die Professur in Outlook) gegenüber den weichen (persönliche Eigenschaften, Charakterzüge) nicht überbetonen. Oder vielleicht auch, dass wir die Qualität unserer Beziehungen nicht zu sehr über die Anzahl oder die Beantwortungsgeschwindigkeit von Nachrichten definieren.
Nur vielleicht. Ich würde es mir wünschen.
Allerdings muss ich jetzt weiter. Die Mails warten.