Gern würde ich über weihnachtliche Vorfreude, Schneegestöber und die neusten Trends der Musik- und Kunstszene philosophieren. Aber eine Lesung hat mir einen Strich durch die Rechnung gemacht. Und das ist gut so.
Ich bin mit dem Zug auf dem Weg nach Chemnitz, ehemals Karl-Marx-Stadt und Europäische Kulturhauptstadt 2025. Im Zugabteil textet ein älterer Herr lautstark seine Sitznachbarn mit mehr oder minder interessanten Geschichten von damals zu. Dank Noise-Cancelling gehe ich den Text für die Lesung, die mir bevorsteht, durch.
«Eva-Maria Cramer wuchs in einem Pfarrhaus auf. Ihr Vater war in den 50er und 60er Jahren Pfarrer. Sie studierte in Leipzig am Theologischen Seminar Religionspädagogik. 1976 stieg sie um und arbeitete in einer kleinen Kürschnerei. Dort entwarf sie Modelle, mit denen die Firma nationale und internationale Preise gewann.»
Mir ist übel. Soll ich schließlich theatralisch die Rolle dieser Frau annehmen, die im schlimmsten «Zuchthaus» der DDR einsaß. Sie war ungefähr so alt wie ich, als ihr ihr sechsmonatiges Neugeborenes weggenommen und durch die DDR zwangsadoptiert wurde. Eva-Maria Cramer und ihr Mann kamen in unterschiedliche Gefängnisse und sollten dort – so die Vorgehensweise des Staates – «zersetzt» werden. Ihr Schicksal der Zwangsadoption teilte Eva-Maria mit knapp 80.000 Bürgerinnen und Bürgern der ehemaligen DDR, die als politisch Andersdenkende mit «Erziehung durch Arbeit» in Zuchthäusern und Gefängnissen auf Linie gebracht werden sollten.
«Über Weihnachten 84 war ich in der U-Haft. 85 im Frühjahr muss ich nach Hoheneck gekommen sein. Jedenfalls über Weihnachten war ich noch in Zwickau in der U-Haft. Dort war ich in Dunkelhaft und in Einzelhaft — also das kann sich ein Mensch nicht vorstellen. Ich habe Tag und Nacht geheult und geschrien nach meinem Kind und wollte wissen, wie es ihm geht. (…) Da hast du dann nur an den Geräuschen vom Hof gehört, welche Tageszeit ist. Es war finster, Tag und Nacht finster. (…) Also wie ein Tier, wie ein Tier mussten wir leben.» (Auszug eines Interviews von H. Bartsch mit E.-M. Cramer)
Ich gehe im Zug sechs Seiten Interview durch, das der Pfarrer H. Bartsch erst kürzlich mit Eva-Maria führte. Dabei hält mein Noise-Cancelling leider doch nicht so dicht wie gewünscht. Wie ferngesteuert nehme ich die Kopfhörer heraus, als der gesprächige Herr im Zugabteil plötzlich anfängt, vom Frauen-Zuchthaus Hoheneck zu erzählen. Das sei eine gruselige Stelle gewesen, an der er jeden Morgen vorbeigefahren ist. Aber man sagte immer, dass die alle nicht ohne Grund dort einsitzen. Später kam alles raus. «Aber als einfacher Bürger konnste da nüscht machen. Bis heute suchen se nach ihren Kindern.»
An der Lesung wird die Geschichte von Eva-Maria Cramer das erste Mal öffentlich erzählt. Zudem wird die Künstlerin G. Stötzer interviewt und der preisgekrönte Kunst-Kurzfilm «Kaputt», an welchem sie mitgewirkt hat, gezeigt.
Das schwere Gewicht, der anvertrauten Geschichten, ist für alle im Raum deutlich spürbar. Erst als zum Ende Musik einsetzt, spürt man etwas wie «Aufatmen».
Kulturhauptstadt Pfarrer Bartsch sagt mir hinterher: «Mir ist im Nachdenken über die Veranstaltung aufgefallen, dass wir als Gesellschaft hier kaum Versöhnungsprozesse kennen. Südafrika und Uganda praktizieren z.B. sogenannte «Healing of Memory – Konzepte». So was in der Art würde uns hier auch guttun. Vielleicht kann die Kulturhauptstadt und die Kirche hier einen größeren Impuls geben?!» Später denke ich über seine Worte nach.
Befinden wir uns nicht genau in diesem Riss? Von Kultur, Kunst und Glaube? Kennt nicht gerade unser christlicher Glaube eben diese Vergebung und Versöhnung? Und kennen wir nicht als Künstlerinnen und Künstler Mittel, die dem Ausdruck verleihen, wofür es keine Worte mehr gibt?
Eva-Maria Cramer konnte erst 2008, knapp 21 Jahre nach ihrer Inhaftierung ihren Sohn wieder in die Arme schließen. Ihr Glaube habe ihr Halt gegeben. Die ebenso betroffene Künstlerin Stötzer hat ihren ganzen Lebens(er)halt in der Kunst gefunden. Sie veröffentlichte Bücher, Kunst, Dokus uvm. Als sie freikam, wollte sie nur noch Kunst machen. «Denn ich hatte ja nichts mehr zu verlieren. Egal ob ich immer arm bleiben würde. Das musste aus mir raus.» Eine Kunstinstallation wird nun im Rahmen des «Purple Path» – einem Kunstpilgerweg in der Kulturhauptstadtregion – im Andenken an die Frauen im Hohenecker Schloss installiert.
Blogtext anhören
Mehr …
>> … zur Künstlerin Gabriele Stötzer
>> … zum «Purple Path»
>> … zum Gefängnis Hoheneck