Vor ein paar Jahren rutschte ich noch mit einem Mix aus Neugierde und Abenteuerlust in ein neues Jahr. Mit dem Schwefel der Feuerwerksluft in der Nase und dem Prickeln des Proseccos im Bauch. All das verströmte Aufbruchstimmung und versprach Neuanfang. 2023 scheint das Momentum des Neujahrs irgendwie nicht mehr ganz so prickelnd. Das «Alles ist möglich» wurde irgendwann zum «Es ist noch so einiges möglich». Heute, am 11. Januar 2023, frage ich mich eher, ob denn überhaupt noch irgendetwas möglich ist. Damit bin ich nicht allein. Die Fortschrittserzählung, die den Westen seit langem antreibt, verliert allgemein an Glaubwürdigkeit. Die Vorstellung, die Zukunft bringe zwangsläufig ein Mehr an Freiheit und Wohlstand, scheint immer fragiler zu werden. Kein Wunder. Multiple Krisen und so.
Bei allzu dystopischer Stimmung hilft mir eine ordentliche Portion Popkultur. Die Gleichung war diesmal einfach: Ein mir bis dahin unbekannter Musiker, ein Genre, das eigentlich nicht so meines ist plus ein artsy Musikvideo. Das ergab das perfekte Mittel gegen meine innere Weltuntergangsstimmung. Blöd nur, dass dieser Song einen wahnsinnig trostlosen Text hat. Es war aber irgendwie bereits zu spät und ich schon längst in dieses Lied reingefallen.
Eine Songanalyse
(Klingt intellektueller, als es ist. Ich copy&paste hier nur die Lyrics und gebe dazwischen meinen Senf dazu.)
Kummer – Der letzte Song (Alles wird gut) feat. Fred Rabe
Ich würd‘ dir gerne deine Angst nehmen
Alles halb so schlimm, einfach sagen
Diese Dinge haben irgendeinen Sinn
Doch meine Texte taugten nie für Parolen an den Wänden
Kein Trost spenden in trostlosen Momenten
Im Gegenteil, fast jede meiner Zeilen
Handelt von negativen Seiten oder dem Dagegensein
Ich hab‘ kein‘ sicken Flow und ich schreib‘ auch keine Hits
Aber gib mir eine Strophe und die gute Stimmung kippt
Obwohl das wohl nicht vorgesehen ist, entlockt mir der Song ein Schmunzeln. Ich stelle fest: Wir haben es hier mit einem waschechten Pessimisten zu tun. Mein Eindruck deckt sich immerhin mit der Selbstwahrnehmung des Musikers:
Ich wär‘ gerne voller Zuversicht
Jemand, der voll Hoffnung in die Zukunft blickt
Der es schafft, all das einfach zu ertragen
Ich würd‘ dir eigentlich gern sagen …
Man beachte den Konjunktiv in der letzten Linie. Er würde wollen, wenn er könnte. Was er selbst nicht schafft, lässt er in der Folge einen anderen sagen. Die Lösung: Ein Featuring. Es scheint fast, als ob Fred Rabe im Refrain dem Kummer zusingen muss, was dieser nicht wirklich glaubt aber offensichtlich hören muss:
Alles wird gut
Die Menschen sind schlecht
und die Welt ist am ArschAber alles wird gut
Das System ist defekt,
die Gesellschaft versagtAber alles wird gut
Dein Leben liegt in Scherben
und das Haus steht in FlammenAber alles wird gut
Fühlt sich nicht danach an aber alles wird gut
So viel Hoffnung und Verzweiflung in einem – das muss man erstmal schaffen. (Dieser Mix spiegelt in etwa meine Neujahrsbefindlichkeit.) In meiner letzten Wohnung hatte ich die Worte «Alles wird gut» in grossen, fetten, schwarzen Klebebuchstaben an der Wand hängen. Ich hatte mir den Spruch nicht unter vielen ausgewählt. War eher Zufall. Es gab nur diesen einen im Angebot und ich fand die Typo ästhetisch. So ging ich – was den Inhalt betraf – vier Jahre lang mit ambivalenten Gefühlen an dieser Wand vorbei. Der Satz tönte wahlweise nach Trostpflaster, Kalenderspruch, einer Lüge oder zumindest einer vermessenen Behauptung. Aber zwischendurch war er mir doch wieder ehrlich tröstliche Erinnerung an das Ende der biblischen Erzählung. An das Versprechen, dass dieser Gott unter den Menschen wohnen wird, bei ihnen sein wird. Und nicht nur das. Tränen werden von unseren Augen gewischt werden, der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz. Weil das alles Geschichte sein wird, muss dann natürlich Neues her. (Siehe, ich mache alles neu! Offenbarung 21,5)
Also wird ja doch alles gut. Und neu obendrauf. Nur jetzt halt noch nicht. Oder erst zum Teil. Denn dieser Gott wohnt ja bereits heute in mir. All das macht das Ganze anspruchsvoll und Optimismus im 2023 zu einem Hochleistungssport. Kummer trifft es eigentlich ganz gut:
Fühlt sich nicht danach an aber alles wird gut
>> Musikvideo zu «Alles wird gut», dem letzten Song von Kummer
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