Vom Perfektionismus

«Hallo, mein Name ist Christian. Ich bin Alkoholiker und seit 20 Jahren trocken.» So begrüsste uns ein älterer Mann im Schulunterricht über Suchterkrankungen. Christian hinterliess einen bleibenden Eindruck bei mir.

«Die Kirche würde stark an Überzeugungskraft gewinnen, wenn wir Christen mehr wie die Anonymen Alkoholiker wären.» – John Ortberg

«Hallo, mein Name ist Emanuel. Ich bin Perfektionist und lebe seit einem Jahr in der Realität.»

Im Spätfrühling 2021 schlitterte ich ungebremst in eine Erschöpfungsdepression. Es fühlte sich an, als ob ein tonnenschweres Gewicht auf meine Brust drückt und mir den Atem raubt. Ich ging zum Hausarzt. Danach zum Psychiater. «Sie kommen wieder auf die Beine!», meinte er. Eine mehrmonatige Gesprächstherapie folgte, medikamentös begleitet von einem Serotonin-Wiederaufnahmehemmer. Die Auslöser waren vielschichtig. Eine Sache zog sich jedoch durch alles hindurch: Perfektionismus.

«Perfektionismus bedeutet nicht, dass Menschen Dinge gut machen, sondern dass Menschen panische Angst haben, dass sie nicht gut genug sind. Sie glauben, sie seien nicht mehr liebenswert, wenn sie einen Fehler machen.»[1] – Raphael M. Bonelli

Bonellis Definition ging mir durch Mark und Bein. «Das bin ich», murmelte ich beim Lesen vor mich hin. 

«Der Perfektionist will keinesfalls durchschnittlich, gewöhnlich oder gar fehlerhaft sein. Aber so ist der Mensch nun einmal. Also gilt es mit der eigenen Fehlerhaftigkeit leben zu lernen, zu akzeptieren, dass man nicht der oder die Schönste, Cleverste und Erfolgreichste ist. Eine Erkenntnis, die erleichtert, weil mit ihr eine Menge Druck abfällt.»[2] – Raphael M. Bonelli

Mit der eigenen Fehlerhaftigkeit leben lernen. «Wie soll das gehen?», fragte ich mich.

Ich erhielt von meinem Umfeld oft den Rat, ich solle meine Ziele nicht so hoch stecken. Die hohen Ideale sind aber nicht das Problem. Der Mensch braucht sie, um dadurch Raum zur Entfaltung und Weiterentwicklung zu erhalten. Ein hohes Ideal kann mit dem Polarstern verglichen werden, der den Seefahrern als Orientierungspunkt diente. Seefahrer, wie der isländische Entdecker Leif Eriksson wären nie auf die Idee gekommen, sich den Polarstern selbst zum Ziel ihrer Entdeckungsreisen zu machen. Die Unerreichbarkeit des Polarsterns war aber kein Grund, sich nicht an ihm zu orientieren.

Ein anderer Ansatz, der mir von anderen empfohlen wurde, ist das Pareto-Prinzip, auch 80-zu-20-Regel genannt. Es besagt, dass 80% der Ergebnisse mit 20% des Gesamtaufwandes erreicht werden. Die verbleibenden 20% der Ergebnisse erfordern mit 80% des Gesamtaufwandes die quantitativ meiste Arbeit. Doch auch dieser Ratschlag hinkt. Denn wer würde seinem Automechaniker sagen, er solle die Bremsen so reparieren, dass sie in 80% der Fälle funktionieren? Oder dem Heizungsinstallateur, er solle schauen, dass die Heizung an 80% der kalten Tage heizt? Das funktioniert so nicht. Gut gemachte Arbeit zu liefern ist eine erstrebenswerte Sache und tief im Wesen des Menschen verwurzelt.

Als Michelangelo die David-Skulptur aus einem einzigen Marmorblock meisselte, sagte er nicht bei 80%: «Na, das passt schon. Der sieht in etwa aus wie der David.» Nein, er vollendete sein Kunstwerk. Er erschuf damit die erste Monumentalstatue der Hochrenaissance. Sie gilt als die bekannteste Skulptur der Kunstgeschichte. Warum erlitt Michelangelo dabei kein Burnout? Der Druck zu versagen müsste doch enorm gewesen sein? Die entscheidende Frage ist: Wer oder was stand im Vordergrund seiner Arbeit? Das Kunstwerk oder der Künstler? Die Antwort lautet: Das Kunstwerk, die David-Skulptur.

Stünde Michelangelo als Künstler im Vordergrund, würde er sich ständig fragen: «Was werden wohl die anderen von mir denken? Wie werde ich bei den anderen ankommen mit meiner Kunst? Werden sie mich dafür wertschätzen?» Da liegt der springende Punkt, der den grossen Unterschied macht: Wenn ich meinen Wert als Mensch vom Ergebnis abhängig mache, gerate ich in eine zerstörerische Negativspirale.

 Bei mir fing der Weg zur Freiheit mit der Korrektur meiner Selbstwahrnehmung an. Es kostete mich grosse Überwindung, mich anzunehmen mit meiner Fehlerhaftigkeit, Durchschnittlichkeit und Gewöhnlichkeit. Ich übe mich täglich darin, meine Unvollkommenheit nicht nur auszuhalten, sondern liebevoll zu umarmen.

Ich darf meinen perfektionistischen Selbsterlösungstrieb mit Jesus kreuzigen und mir meine Daseinsberechtigung jeden Tag neu von ihm schenken lassen. Wenn ich auf den Gekreuzigten blicke, erkenne ich mich selbst wieder und realisiere staunend: So verloren wär‘ ich. Und so geliebt bin ich. 

«Hallo, mein Name ist Jesus. Ich bin Gekreuzigter und seit 2000 Jahren auferstanden.»

Blogtext anhören

[1]   «Psychiater über Perfektionismus» – Deutschlandfunk
[2]   «Daran erkennen Sie einen Perfektionisten» – news.at