Wie Mose, nur verrückter

«Zehn Gebote Vol. 2 – Ein Werk mit Geschichte und Zukunft»*, ein Langzeitprojekt der Konzeptkünstler Frank und Patrik Riklin aus St. Gallen. Gemeißelt auf dem Klosterplatz in St. Gallen, dann in Zürich im Fluss ohne Bewilligung versenkt und später, weil (oh Wunder) die Stadt Zürich das nicht so lustig fand, wieder an Land gebracht. Per Fußmarsch kamen die zehn Tafeln dann ins Museum für Kommunikation in Bern. Jetzt, zwei Jahre später, eine erneute Verschiebung in zehn Etappen von Bern nach Luzern und dann per Zug nach Degersheim.

Bei einer der zehn Etappen klinkte ich mich ein, von Langnau im Emmental bis nach Eschholzmatt auf Luzerner Boden. Es folgt ein Erlebnisprotokoll vom 11. Mai 2023:

9:01 Uhr
Etwas verspätet fährt mein Zug ab Luzern Richtung Emmental los. Ein körperliches und geistiges Abenteuer wartet dort auf mich.

9:06 Uhr
Das Wetter zeigt sich gerührt über die ganze Aktion und verdrückt ein paar Tränchen.

9:14 Uhr
Eine Durchsage im Zug endet mit «We wish you a pleasant journey». Ich bedanke mich höflich.

IV – Venture into new territories and surprise yourself.
Wage dich in neue Gebiete vor und überrasche dich selbst.

9:56 Uhr
Ich treffe auf dem leeren Viehmarktplatz in Langnau im Emmental ein. Sollten wir hier nicht in 4 Minuten loslaufen?

9:57 Uhr
«Hoi Samuel!» Er ist hier, um die «Steine zu befreien». Kaum gesagt, verschwindet er in einer kleinen Garage und schiebt die ersten Steintafeln raus.

10:07 Uhr
Meine Schiebe-Freunde für heute und die Riklins sind aus dem Basislager (aka Hotel Hirschen) eingetroffen. Es werden Spannsets geprüft und Reifen gewechselt. Ein eingespieltes Team.

10:14 Uhr
Die kaputten Reifen dürfen hier zurückgelassen werden. Es entsteht die Idee von sogenannten «Relikten», welche der Gemeinderat von Langnau im Emmental zu besonderen Anlässen an eine Person aus der Bevölkerung verschenken könnte.

I – Believe in the urgency of your thoughts.
Glaube an die Dringlichkeit deiner Gedanken.

10:26 Uhr
Nächster Programmpunkt: Proviant einkaufen und das lokale Lädeli unterstützen. Ich spare mir das enge Rangieren in den Gängen und stelle mein erstes Gebot bei der Eistruhe ab.

10:31 Uhr
Wo ist meine Tafel?

10:32 Uhr
Ein Mitschieber hat meine Tafel übernommen. «Meine» Tafel, klingt irgendwie falsch. Habe auf dem Platz vorhin noch behauptet, dass es mir egal sei, welches der zehn Gebote ich mit auf die Reise nehmen darf. Nun wurmt mich der Verlust doch mehr, als ich zugeben will. Aber Gebot 10 ist auch ok.

X – Keep processes going even if they seem to end.
Setze Prozesse dort fort, wo sie vermeintlich enden.

10:46 Uhr
Noch eine WC-Möglichkeit vor dem Abmarsch. Will mich ja nicht einmischen, aber sollten wir nicht langsam die Etappe in Angriff nehmen?

11:00 Uhr
Boxenstopp bei der örtlichen Tankstelle. Das Rollmaterial wird aufgepumpt und es folgt eine letzte wichtige Info an die Schieb-Neulinge von Mergime (eine erfahrene Schieberin und sogenannte Kernkomplizin): «Wenn der Stein fällt – lasst ihn fallen! Auch wenn er kaputt geht, keine Füsse dazwischen.» Wir seien wertvoller als diese zehn Steintafeln. Amen!

IX – Do not look for customers find accomplices.
Suche nicht nach Kunden, finde Komplizen.

11:23 Uhr
PENG! – Kaum richtig Tempo aufgenommen, knallt ein Reifen und wir pausieren für einen Radwechsel.

11:44 Uhr
Habe das Gewicht dieser Platte definitiv unterschätzt. Aber so langsam habe ich den Dreh raus und den idealen Schwerpunkt, wo es am besten rollt, gefunden.

12:17 Uhr
Posieren in einer steilen Scheuneneinfahrt eines Bauernhofs – Dokumentation ist wichtig.

II – Trust insanity and question the conventional.
Vertrau dem Verrückten und hinterfrage das Konventionelle.

12:49 Uhr
Eine Frau rief uns vom Fenster aus zu, ob wir kurz warten könnten. Sie wolle unbedingt ein Foto machen. Klar, so abgehoben sind wir noch nicht, dass wir ihr diesen Wunsch ausschlagen werden. War es vielleicht der Artikel in der Berner Zeitung über die Aktion? Kurze Schnappschüsse vereinzelter Tafeln – wir konnten uns nicht mal für ein Gruppenfoto positionieren – schon ist sie wieder im Haus verschwunden. 30 seconds of fame.

13:06 Uhr
Mit einem romantischen Blick auf die Kambly-Fabrik wird ein Mittagsrast eingelegt. Nach den ersten schweigsamen Verpflegungs- und Verschnaufminuten wird wieder mehr gesprochen. Frank gibt (wohl zum x-ten Mal) geduldig Auskunft, warum die Gebote in Englisch auf den Tafeln stehen.

14:11 Uhr
«An die Steine!», ruft Mergime. Gefühlt 15 Minuten später sind dann auch alle bereit und wir können weiterrollen.

14:36 Uhr
Der Untergrund wird kiesig. Ich bin kein grosser Fan aber the Show must roll on.

14:37 Uhr
Schieben, Daniel, schieben. Verkneif dir auch die blöden Wortwitze und denk nicht mal an die berühmte englische Rockband.

14:56 Uhr
Asphalt war schon eine gute Erfindung, oder?

15:27 Uhr
Beim Pausengespräch bilden sich zwei Lager: Die, die wissen wollen, wieviele Kilometer es noch sind bis Escholzmatt und die, die es lieber nicht wissen wollen. Ich gehöre tendenziell der zweiten Gruppe an. Noch 5.8 Kilometer.

III – Break in so others can break out.
Breche ein, damit andere ausbrechen können.

16:47 Uhr
Patrik Riklin hält die Smartphone-Kamera auf mich und fragt, warum ich Steine schiebe. Kurzer schweratmiger Einstieg («Ja, das frage ich mich auch schon den ganzen Tag»), dann schnell die Vision von Central Arts runtergespult («Wir wollen die Welt schöner hinterlassen als wir sie angetroffen haben») und noch ein Wortspiel mit Steinen zum Schluss. Er scheint glücklich mit der Antwort.

17:55 Uhr
Geschafft! Ankunft in Eschholzmatt. Für ein emotionales Einander-in-die-Arme-fallen bleibt keine Zeit, denn der Zug fährt bald. Ein hektisches Gruppenfoto und schon beziehen die zehn Steine ihr Nachtlager im lokalen Gartenmarkt.

18:21 Uhr
Ich tauche wieder unter im Pendlerverkehr. Wenn die Leute wüssten, dass ich noch vor 30 Minuten mit einer Steintafel unterwegs war! Wie Mose, einfach verrückter!

V – Create new realities and make them happen.
Schaffe neue Realitäten; komm vom Denken ins Handeln.

Am 16. Mai sind die Zehn Gebote Vol. 2 dann heil in Degersheim, St. Gallen angekommen. Ihr neues «Kunstasyl» ist bezogen und sie sind dort öffentlich zugänglich.
Es war für mich eine Pilgerreise. Ob die Riklins diese fromme Bezeichnung nun mögen oder nicht. Und das Kunstwerk der beiden befindet sich meiner Meinung nach irgendwo am Rande der Schnittstelle von Kunst und Glaube. Offen für den Diskurs sind die zwei auf jeden Fall. Ich hoffe, wir aus der frommen Ecke, sind es auch.

 

*Alle Gebote und mehr Infos zum Projekt auf zehngebotevol2.com
 

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