Kunst muss gar nichts – aber kann doch so viel

Ein Spätnachmittag Mitte August in Frankfurt. Mit meiner kanadischen Freundin schlendere ich über die trubelige Zeil, die Haupteinkaufsstraße in Frankfurt. Überreizt und müde vom Stadt-Wandern flüchten wir uns an einen sehr besonderen Ort mitten in der Großstadt: Der Innenhof des Kapuzinerklosters und der Liebfrauenkirche, den «Ort der Stille».

Die dicken Mauern der jahrhunderte Jahre alten Gebäude verschlucken den Lärm der Stadt und sofort taucht man ein in eine Atmosphäre des Friedens und der Ruhe. Wir schauen uns um, staunen über die Architektur, riechen den Duft von brennenden Kerzen, die an einer Seite des Hofes aufgestellt sind – und vernehmen zu unserer Überraschung Orgelspiel und Gesang aus dem Inneren der Kirche. Die Melodien locken uns hinein, wir setzen uns, begleitet von einem dumpfen Knarren, auf eine alte Kirchenbank und lauschen der Musik.

Mein Blick schweift an der kunstvoll gestalteten Kirchendecke entlang und meine Nase füllt sich mit dem schweren, süßen Duft von Weihrauch. Ich staune. Neben mir läuft meiner Freundin eine Träne über die Wange.

Obwohl sie weder den Gesang noch die Worte des Priesters versteht, ist sie bewegt von dem, was wir gerade hören, sehen, riechen, erleben.

Wenige Tage später in Halle (Saale) werfen wir einen Blick in jede Kirche, die unseren Weg kreuzt, verweilen mal kürzer, mal länger dort und kommen immer wieder ins Staunen. Staunen über die Gestaltung der Fenster, die die biblischen Geschichten erzählen und über die durchdachte Architektur, die den Glaubensweg darstellt.

Einige Tage später in Leipzig. «Ich bin auf der Suche nach etwas, das mich catcht!» Ich bin mit meiner kanadischen Freundin und meinem Freund unterwegs und dieser Satz fällt auf dem Innenhof eines Atelier- und Galeriegeländes, auf dem namhafte zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler ihre Werkstätten und Ausstellungsräume haben. Doch ist es für meinen Freund eher ein ernüchternder Besuch.

Zugegeben, nur eine Handvoll der Galerien sind geöffnet, vieles haben wir an diesem Tag gar nicht gesehen, ein weiterer Besuch wird uns sicherlich (und auch hoffentlich) nochmal eine andere Perspektive eröffnen. Ich selbst finde einige der Drucke und Gemälde durchaus ansprechend, ich bin fasziniert von feinen Linien und dem Farbspiel. Manches hat mich aber auch stutzig gemacht und so geht mir an diesem Freitagnachmittag diese von Ernüchterung begleitete Aussage nach und mal wieder stellt sich mir die Frage, was Kunst eigentlich soll.

Eine Frage, auf die es unzählige, teils widersprüchliche Antworten gibt. Sie soll schön sein. Sie soll politische Aufmerksamkeit erregen. Sie soll authentischer Ausdruck sein. Sie soll inspirieren. Sie soll zum Nachdenken anregen. Sie soll eine Stimmung wiedergeben. Sie soll irritieren. Sie soll einfach sein dürfen. Sie soll ein Ziel haben. Sie soll den Zuhörer oder die Betrachterin entspannen lassen. Sie soll aktivieren. Sie soll beruhigen. Sie soll Gefühle erregen. Sie soll begeistern. Sie soll mich catchen.

Kunst soll was mit uns machen. Was, das ist offen. Doch ich beobachte eine wachsende Sehnsucht nach Staunen, nach Freude, nach Faszination, nach Genuss. «Ich bin auf der Suche nach etwas, das mich catcht!»

Wenn ich die Kunst wäre, würden mich diese ganzen Ansprüche ganz schön überfordern. Und auch verwirren. Aber vielleicht auch gelassen machen. Und ich würde mich vielleicht sogar freuen, weil ich entdeckte, dass ich so vieles kann. Ich würde darüber staunen, dass ich an verschiedenen Orten, in so vielfältigen Gestalten, zu unterschiedlichen Zeiten zu finden bin. Und ich würde mir wünschen, dass man mich einfach sein lässt. Und dann darüber staunt, was ich alles kann. Und ich würde mich natürlich auch freuen, wenn man hin und wieder mit großen Augen und offenem Mund vor mir steht.

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