Was Künstler und Propheten gemeinsam haben

Links neben Dostojewski steht Juli Zeh. Neben ihr Hermann Hesse. Dann kommt Christina Brudereck. In meinem Bücherregal befinden sich nur wenige Romane. Dominiert wird es von theologischer Fach- und moderner Erbauungsliteratur und ergänzt von zahlreichen Gedichtbänden, die meistens ungelesen sind. Die endlose Liste der Bücher, die ich noch lesen wollte. Juli Zehs Romane dagegen habe ich mehrfach gelesen. Seitdem sie mir als Schullektüre zum ersten Mal begegnet ist, begleitet sie mich und liefert mir wertvolle Einsichten zu Menschen weit über meinen theologischen Tellerrand hinaus. Es fasziniert mich, wie präzise sie gesellschaftspolitische Entwicklungen wahrnimmt und weiterdenkt, daraus den Stoff für ihre Romane bastelt und damit eine kritische und interessante Perspektive aufzeigt. Und das alles in Kombination mit ansprechender und kunstvoller Sprache, im Erzählen von Geschichten und Malen von komplexen Charakteren. 

Hesse, Dostojewski, Zeh und Brudereck: Allesamt präzise Beobachter und vereinnahmende Wortkünstlerinnen, die meiner Meinung nach noch etwas gemeinsam haben. Sie weisen auf Missstände hin und / oder kreieren von Mut und Hoffnung geprägte Figuren und Welten und sind damit jeweils prophetische Stimmen ihrer Zeit. Klingt erstmal gewagt und auch befremdlich, dieses Wort «prophetisch». Doch wenn wir uns diesem Begriff mit der Definition von dem amerikanischen Theologen Walter Brueggemann nähern, dann wird hoffentlich klarer, was ich meine:

«Die Aufgabe von Prophetie ist es, ein Bewusstsein und eine Wahrnehmung zu fördern, zu nähren und hervorzurufen, die eine Alternative zu dem Bewusstsein und der Wahrnehmung der uns umgebenden dominanten Kultur darstellt. Dabei ist es die Aufgabe, Kritik und Anregung (im Englischen: criticism and energizing) zusammenzuhalten. Anregung hat immer auch etwas mit Hoffnung zu tun.»

Ein Versuch in eigenen Worten: Prophetie hat mit der Förderung einer Wahrnehmung zu tun, die eine Alternative zu der dominanten Kultur darstellt. Dieser Förderung geschieht durch präzise Kritik des Bestehenden und hoffnungsgetragener Anregung zu Neuem. Prophetinnen und Propheten sind Gesellschaftsgestalter. 

Nach dieser Definition fällt es mir leicht, genannte Schriftsteller als Propheten und Prophetinnen zu bezeichnen. Und damit bin ich nicht die Erste. Der französische Philosoph und Soziologe Henri de Saint-Simone (1760–1825) sah das ähnlich:

«Maler, Dichter, Philosophen und andere öffentliche Intellektuelle, darunter auch Unternehmer bildeten interessanterweise diese Avantgarde, die Werke produzierte, die den Status quo kritisierten in dem Bemühen, die Gesellschaft zu verbessern. (…)»

Für Saint-Simon kam der Kunst eine prophetische Funktion in der modernen Gesellschaft zu. Diese Saint-Simonsche Doktrin der Avantgarde war für die Künstler gerade deshalb so berauschend, weil sie ihre soziale Rolle erweiterte und ihnen eine größere gesellschaftspolitische Relevanz verlieh – ähnlich wie den Propheten des Alten Testaments, nämlich die Fähigkeit, die Entwicklung der Gesellschaft zu gestalten und zu lenken.»

Wir bei Central Arts haben uns auf die Fahne geschrieben, die Welt schöner zu hinterlassen, als wir sie vorgefunden haben. Dazu braucht es Kritik an dem, was schief läuft. Aber noch viel mehr braucht es eine hoffnungsvolle Alternative, braucht es eine Vision von dem, was sein kann.

Es braucht Geschichtenerzähler, Malerinnen, Musiker und Songwriterinnen, Gestalterinnen und Tänzer, Filmemacher und Schauspielerinnen, die prophezeien. Nicht in dem Sinne, dass sie vorhersagen, was sein wird, sondern in dem Sinne, dass sie Missstände kritisieren und zu hoffnungsvollen Alternativen anregen.

 

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