Die Stalingrad-Madonna

In einer Nische der Gedächtniskirche in Berlin hängt die «Stalingrad-Madonna». Eine Kohlezeichnung mit runden, schwungvollen Linien. Eine Mutter, die ihr Kind und sich selbst in ihren Mantel einhüllt. Rundherum die Worte: «Licht, Leben, Liebe». Worte, die im alltäglichen Sprachgebrauch 2023 rasch einmal auf der kitschigen Seite des Rosses runterfallen. Nicht in diesem Fall. Das liegt an der Geschichte, die diese Zeichnung zu erzählen hat. Sie ist nichts weniger als ein wahres Weihnachtswunder:

Stalingrad 1942. Selbst wenn wir heute die Schrecken, die mit diesem Begriff verbunden sind nicht mehr im Detail kennen, verstummt man innerlich, wenn man sich in diesen Teil der Weltgeschichte zurückliest. Seit dem 23. November 1942 waren die deutschen Soldaten der 6. Armee eingeschlossen. Die Versorgung aus der Luft klappte nicht, wie sie sollte.

Nach fast einem Monat Hungern bei Temperaturen von 30 bis 40 Grad unter Null glaubten viele der Soldaten nicht mehr an die Befreiung aus dem Kessel. Der Gedanke an Weihnachten schien den Männern so fern, wie ihre Familien es waren.

Und trotzdem: Sie bereiteten sich auf das Fest vor, sparten die knappen Lebensmittel zusammen, schnitzten Teller, putzten die kalten Unterkünfte und improvisierten Weihnachtsbäume aus Steppengras. Unter den Eingeschlossenen war auch der als Truppenarzt stationierte Theologe und Mediziner Kurt Reuber. In einem Brief an seine Frau beschrieb er die Art der Weihnachhtsvorkehrungen mit «festliches Niveau in allem armen Dreck». Auch Kurt Reuber bereitete in seinem behelfsmäßigen Atelier eine Weihnachtsüberraschung vor. Mit einem Stück Kohle zeichnete er auf die Rückseite einer 95x115cm großen, sowjetischen Landkarte ein Bild. Maria und das Jesuskind. In abstrahierten Formen sind der schützende Mantel, die starken Hände, mit denen Maria das Kind nah bei sich hält und ihr freundliches Gesicht dargestellt. In Grossbuchstaben rahmen «Licht, Leben, Liebe» die Zeichnung. Diese Formel war als Verheißung für die entmutigten Soldaten gedacht. Licht – mitten im russischen Winter, der fast nur Dunkelheit und Kälte kennt. Leben und Liebe in einer todbringenden Schlacht eines hasserfüllten Krieges.

Reubers Glaube fand unter unmenschlichen Zuständen einen künstlerischen Ausdruck.

Er nagelte das Bild an einem Holzbrett an die Lehmwand. Die Soldaten waren gerührt. Ganz unerwartet hat sie damit die Weihnachtsbotschaft erreicht. Der Moment dauerte nicht an. Das Gefecht beendete Weihnachten im Kessel von Stalingrad. Kurz darauf nahmen sowjetische Truppen die Festung ein. Von den mehr als 300 000 eingeschlossenen Soldaten kehrten nur 6000 – manche davon erst nach zehn Jahren – zurück. Kurt Reuber war nicht unter den Überlebenden. Sein Bild aber war auf wundersame Weise mit einem der letzten Flüge aus dem Kessel zu Reubers Familie gelangt. Im letzten Brief an seine Frau schrieb er:

«Schau in dem Kind das Erstgeborene einer neuen Menschheit an, das unter Schmerzen geboren, alle Dunkelheit und Traurigkeit überstrahlt. Es sei uns ein Sinnbild zukunftsfrohen Lebens, das wir nach aller Todeserfahrung umso heißer und echter lieben wollen, ein Leben, das nur uns lebenswert ist, wenn es lichtstrahlend rein und liebeswarm ist». 

«Die Stalingrad-Madonna» – Kunst, die Seelen am Leben hielt. Ein Dokument der Menschlichkeit. Wenn ich sie mir so anschaue, nachdem ich nun weiss, woher sie kommt, wird sie mir über achtzig Jahre später zum Symbol der mir allzu bekannten Sehnsucht nach allem, was äußerlich so wenig sichtbar ist. Was am Ende nur in unserem Innern geboren werden kann.

 

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