Der Sound des göttlichen Geheimnisses

Wir waren eine Gruppe junger Erwachsener im Hochsommer in der Toskana. Eine Ansammlung von Übermut und Hormonen. Wahrscheinlich war es nur die drückende Mittagshitze und weniger die Sehnsucht nach Kontemplation, die uns in die Kirche schob. Eine angenehme Kühle, wenig Tageslicht, barocke Figuren und diese plötzliche, unnatürliche Stille unter uns. Andacht, die eigentlich keine war. Vielmehr erfüllten wir Konventionen. Ein Gotteshaus – pst! Wir saßen verstreut in den Bänken, als jemand aus der Gruppe in die Weihrauchluft hinein ein Lied anstimmte und die Stille brach. Wir verliebten uns für lange Minuten in den Hall und die Mehrstimmigkeit. Am Ende waren wir ganz beseelt. Richtig andächtig. 

«Der Leib wird im Singen und Musizieren ein Resonanzraum der Gotteserfahrung.»

Das sagt Peter Bubmann, Professor der Theologie, der u.a. zum Verhältnis von Musik und Kirche forschte. Was er beschreibt, habe ich in meinem Spaghettitop mit abgekühltem Schweiß auf der jugendlichen Haut und der Sopranstimme in meiner Kehle durchlebt. Warum ich mich jetzt, am eher trostlosen Februarende an diesen toskanischen Sommer erinnere, kann ich nicht recht sagen. 

Sicher ist aber, dass ich dort zwei Dinge am eigenen Leib erfahren habe, wie man altbacken aber so treffend zu sagen pflegt. Erstens sind Kirchen mehr als Sehenswürdigkeiten und auch mehr als Gebäude für Glaubensvermittlung. Sie sind Orte des Klingens und des Hörens, des Schwingens und der Resonanz. Und zweitens gehören das Singen und die Musik zu den grundlegenden Weisen der Gottesbegegnung. So ziemlich alle menschlichen Regungen – von ausgelassenem Glück über eine verzweifelte Bitte bis hin zum rohen Schmerz – finden in einem Lied ihren Platz. Kirchenmusik hat eine lange Geschichte. Wir finden schon im Alten wie im Neuen Testament der Bibel Beispiele dafür, wie Menschen ihre Erfahrungen durchsingen mussten, um sie begreifen zu können. 

Ist Musik Gotteserfahrung? Wie so oft: Ja und nein. Mit der Unverfügbarkeit Gottes ist es ja so eine Sache. Der Benediktinerpater Anselm Grün bringt das mit wenigen Worten so zum Ausdruck:

«Für mich ist Gott das absolute Geheimnis, vor dem ich stehe. »

Ich will nicht mehr so glauben, als ob ich den Verhaltens-Code Gottes geknackt hätte. Mein Verzicht auf Wenn-Dann-Sätze über Gottes Wirken schließt Musik mit ein. Die richtige Klangfarbe, das richtige Intervall, die richtigen Harmonien und schon sind wir vom Himmel geküsst?

Musik sperrt sich, meiner Erfahrung nach, genauso gegen Erfolgsrezepte. Ein Ton kann in uns anklingen oder bloße Schallwelle irgendwo zwischen 16 Hz und 20 kHz bleiben. Auch die Transzendenz in der Musik bleibt ein Geheimnis. Zugegeben, einige Musikerinnen und Musiker scheinen den Dreh besser raus zu haben, als andere. Johann Sebastian Bach, beispielsweise. Seine Musik war und ist für viele ein Weg zur Gottesbegegnung. Selbst für  Menschen wie Igor Levit, die sich selbst als nicht religiös bezeichnen. Der bedeutendste Pianist der Gegenwart wurde für seine Bachinterpretationen bekannt. In einem Interview mit DER ZEIT sagte er 2018:

«Egal, was Bach schreibt: Ich fühle mich verstanden. Ich vertraue ihm, ich fühle mich geschützt und geborgen. Ich gehe mit. Das kann ich nicht erklären. Aber ich fühle mich an die Hand genommen.»

Es ist, als ob Musik den Raum designt für göttliche Präsenz und unsere menschlichen Resonanzen darauf. Grundvertrauen und Angst, Staunen und Erschrecken, Dank, Trost, Sehnsucht. Gott erwischt auch mich immer wieder in den unzähligen Variationen, die die 12 Töne in unserem Kulturkreis hergeben.

 

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