Sehen lernen

Ich wäre gern ein Kunstkenner. Manchmal tue ich, als wäre ich einer. Aber eigentlich bin ich keiner. Das musste ich mir nochmal neu eingestehen, als ich zwischen den Jahren mit meiner Frau in Palermo war. Es war das erste Mal, dass ich in einem Urlaub erst einige Tage nach Ankunft eine Stadtführung machte. Wir hatten also einige Tage lang die Stadt auf eigene Faust erkundet, hatten Sehenswürdigkeiten angeschaut und die Architektur bewundert, wir sind in Märkte eingetaucht und hatten Espresso ohne Ende genossen, aber – wie sich bei der Führung zeigte – hatten wir das meiste übersehen: Die Historie, die die Stadt atmet, die Nuancen der Architektur, die unendliche Geschichten erzählen oder die wiederkehrenden Motive, die sich über die Stadt verteilen.

Besonders eindrücklich war das am Platz der «Vier Ecken»: Was ich die Tage zuvor gesehen hatte, waren vier Hausfassaden auf einer Kreuzung. Alt und verfallen. Jede Fassade hat auf Erdgeschosshöhe einen Brunnen, darüber eine männliche und darüber eine weibliche Statue. Das wars. Mehr hatte ich kaum wahrgenommen. Klar, die Statuen hatten mich kurz in Staunen versetzt, aber der Trubel auf dem Platz, der Crêpesstand und die Fußgängerzone hatten dann doch meine Aufmerksamkeit schnell auf sich gezogen. 

Wie die Stadtführerin aufzeigte, hatte ich im Grunde genommen den gesamten Zauber verpasst.

Was sich mir eigentlich präsentiert hatte, war nämlich das «Theater der Vier Jahreszeiten»: Eine Kreuzung, die so aufgebaut ist, dass die untergehende Sonne immer eine der Fassaden beleuchtet, je nach Jahreszeit.

Die Brunnen illustrieren die jeweilige Jahreszeit. Ein spanischer Herrscher darüber und eine lokale Schutzpatronin im dritten Stock. Jede mit ihrer eigenen Geschichte, die durch verschiedene Details widergespiegelt wird. 

Während mir all das aufgezeigt wurde, hatte ich das Gefühl, als würde ein Schwarz-Weiß-Bild gerade eingefärbt werden. Als hätte ich davor in einer Welt gelebt, der alle Sättigung entzogen war. Ich fühlte mich wie  zurückversetzt in die Zeit, in der ich das Lesen gelernt hatte: Aus F-U-S-S-B-A-L-L war langsam FU-SS-BA-LL geworden und dann endlich: FUSSBALL! Buchstaben waren zu Worten geworden und ich hatte lesen gelernt, bis es vollkommen natürlich geworden war.

Dass ich etwas auf so amateurhafte Art und Weise sehe, wie die Buchstaben damals – damit rechne ich kaum noch. Als könnte ich alles, was die Welt vor mir ausbreitet, lesen. Als stünde ich nicht vor einer Realität, die ich zwar wahrnehme, aber eigentlich nicht begreife. Wie Buchstaben, die ich nicht zu einem Wort zusammenbekomme. Wie ein bedeutungsvoller Ort in Palermo, an dem ich achtlos vorbeigehe.

Nach der Führung habe ich mich gefragt, was ich in dieser Welt noch nicht sehe, obwohl ich es glaube zu sehen.

Auf einmal betrachtet man jeden Baum anders – steckt da vielleicht mehr dahinter?

Gibt es in dieser Welt vielleicht unendlich viel zu entdecken? Dinge, die wir ohne Stadtführer gar nicht wahrnehmen können? Was ist dieses Kunstwerk, das wir Leben nennen und wie kann ich vom Künstler einen Hinweis bekommen?

Auf einmal wandelt sich die Perspektive: Ich möchte nicht als Kunstkenner leben, eher als Kunstlernender. Aufs Leben bezogen: Ich will nicht leben als Lebenskenner, sondern Lebenslernender sein. Nicht der Illusion glauben, dass ich das Leben verstehe, eher, dass ich es lerne, Erklärungen brauche und Hilfestellung benötige, um das Wunder jedes kleinen Kunstwerks dieser Welt zu sehen.

 

Blogtext anhören