Ich steige aus dem Bus und sehe mich hastig um. Ein Versuch, mich schnellstmöglichst zu orientieren. Ich war noch nie hier und bin spät dran.
Gestresst zu einem Tag der Einkehr, einem Übungstag in christlicher Kontemplation anreisen? Wie ironisch ist das denn!
Noch fühle ich mich wie eine Witzfigur, die in der tiefen Innerschweiz ausgespuckt wurde und nicht so recht weiss, ob das mit dem Sitzen und Schweigen unter lauter Fremden wirklich eine gute Idee war. Schon sehe ich den Wegweiser zum «Lassalle-Haus». Jetzt gibt es keinen Weg zurück. Wäre schade um das Kursgeld.
Ich suche den Eingang. Der Weg führt mich unter einem bepflanzten Betonbogen durch. Alles ist schattig, bewachsen und ich unsicher, ob ich hier richtig bin. Dieses Haus, dessen Eingang ich suchen musste und dessen schmale Öffnungen eher Schießscharten als Fenstern ähneln, sagt gerade nicht «Hallo und herzlich willkommen. Schön, dass du da bist.» zu mir. Aber es sagt mir, dass hier ein geschützter Raum verborgen ist. Und dass manchmal Abschottung nötig ist, um diesen Raum überhaupt zu finden. Der Alltag unserer Vorfahren war natürlicherweise geprägt von Zeiten der Stille. Mit meiner vollgepackten Agenda, dem Mental Load in meinem Kopf und der Dauerbeschallung auf meinen Ohren passiert mir das als Zeitzeugin im 2024 nicht mehr automatisch. Ich muss bewusst Raum schaffen, um Stille zu erfahren. Heute ist dieser Raum ein konkretes Gebäude. Vor über 90 Jahren als katholisches Bildungshaus gedacht, ist das Lassalle-Haus heute ein Zentrum der Jesuiten für Spiritualität, Dialog und Verantwortung.
Dieser Ort macht etwas mit mir. Er lockt, verführt und besänftigt mich. Er macht es mir leicht, sowohl in mich, in die Welt um mich und gottwärts zu schauen.
Als ich später Freunden davon erzählte, merkte ich nach nur wenigen Sätzen, dass ich mich in ihren Ohren wohl wie eine etwas abgedriftete Esoterikerin anhören muss. Kraftort, Aura und so. Ich scheiterte kläglich am Versuch, zu erklären, was ich meine. Es mussten Fakten und Informationen her, um wieder etwas aus der Räucherstäbchen-Klangschalen-Ecke rauszukommen. Ich recherchierte. Der Schweizer Künstler und Architekt André Studer entwarf das Lassalle-Haus nach den Prinzipien der harmonikalen Architektur in den 70ern. Dieses Prinzip besagt – jetzt wird es kurz kompliziert – dass die architektonischen Proportionen harmonisch bestimmt sind. Harmonisch deswegen, weil sich alle Masse aufeinander beziehen. In einem ganz bestimmten, einem ganzzahligen Verhältnis. Alle Grössen und Längen von Türrahmen, Fenstern oder Bodenplatten sind ein Vielfaches. Etwa doppelt oder dreimal so viel oder nur ein Teil des Grundmasses, das bei 30 cm liegt. Die Proportionen, die eine harmonische Melodie ergeben sollen, ermittelte der Architekt mit Hilfe seines Monochords, einem Instrument mit nur einer Saite. Jeder Raum sollte eine andere Klangfarbe haben, deshalb sind die Verhältnisse immer andere.
Kurz: Es geht um Architektur, Mathe und Musik. Und am Ende auch um Religion.
Naja, dieser Kontext hätte dem Gespräch mit meinen Freunden über meine Erfahrungen den nötigen intellektuellen Anstrich verpasst.
Es ist ein Haus der Stille. Aber diese Stille klingt. Und das hat einen Grund.
Einmal mehr wird mein Innerstes bewegt durch das Ergebnis künstlerischer Arbeit und der leisen Stimme vom Himmel her, die ich im davon geschaffenen Raum wahrzunehmen vermag.