Fenster in die himmlische Wirklichkeit

Ein verregneter Samstagabend im Oktober 2021 in Vancouver, Kanada. Ich trete über eine Türschwelle, wende mich nach links und finde meinen Weg in einen von Kerzenschein erhellten Raum, der kaum größer ist als ein großzügig geschnittenes Wohnzimmer. Es riecht nach Weihrauch und das Lodern brennender Kerzen gleitet sanft durch das Halbdunkel. Fremde und etwas karg klingende Gesänge dringen an mein Ohr, meine Augen nehmen bunte Bilder von Heiligen und goldene Kerzenleuchter wahr.

Für 60 Minuten bin ich umgeben von betenden Menschen und eingehüllt in dieses Fest der Sinne.

Zum ersten Mal erlebe ich einen orthodoxen Gebetsgottesdienst. Es bleibt nicht der einzige. Was mir zuerst fremd war, wurde mir über die Wochen vertraut und ich lernte die orthodoxe Liturgie, die Theologie dahinter, die Gesänge und Gerüche, vor allem die liturgische Funktion der Ikonenmalerei sehr schätzen.

Ikonenmalerei, ja, genau, diese etwas seltsam aussehenden Bildnisse von irgendwelchen Heiligen, die der Reformator Johannes Calvin im 16. Jahrhundert verbot. Ich möchte mich an dieser Stelle aber gar nicht in die theologischen Debatten vertiefen, sondern vielmehr erzählen, warum mich Ikonen faszinieren und welche Rolle diese Kunstform für das Glaubensleben spielen kann. 

Dazu ein Szenenwechsel: Frühjahr 2022 in Gießen, Deutschland. Bei meinem abendlichen Spaziergang durch mein Viertel entdecke ich ein rechteckiges, bemaltes Holzstück, nicht größer als eine 2 Euro Münze, auf einer Mauer liegen. Ich betrachte die feine Malerei und erkenne, dass es sich um eine Szene aus der Weihnachtsgeschichte handelt: Die Verkündigung des Herrn, als der Engel Gabriel Maria mit «Begnadete» anspricht und Maria sich bereit erklärt, die Mutter des Messias zu werden: «Ich bin die Dienerin des Herrn. Was du sagst, soll mir geschehen.»

Die kleine Ikone liegt seitdem auf meinem Küchentisch. Hin und wieder betrachte ich sie und denke über Maria nach, über ihr Vertrauen, ihre Bereitschaft, ihre Hingabe. Damit ist sie mir Inspiration und Vorbild.

Ikonen haben genau diese liturgische Funktion: Sie zeigen Menschen, die uns auf dem Weg des Glaubens vorangegangen sind, biblische Personen oder Heilige der Kirchengeschichte, sie sind ein «Fenster in die himmlische Wirklichkeit». In orthodoxen und katholischen Kirchen sind die Gläubigen von ihnen umgeben, um sich ihrer Gegenwart bewusst zu werden, die über Raum und Zeit hinausgeht. Durch die Betrachtung werden sie sich der Tradition des Christentums bewusst, in die sie heute gestellt sind.

Ikonen sind also keine dekorativen Abbildungen von irgendwelchen Heiligen – auch wenn sie leider viel zu häufig zu religiösem Kitsch verkommen – sondern dienen der Vergegenwärtigung der Gläubigen, die uns auf unserem Glaubensweg vorangegangen sind. Eine Besonderheit stellen dabei natürlich Ikonen dar, die Jesus zeigen: ihre Betrachtung dient der Vergegenwärtigung der Gegenwart Gottes. Sie hilft mir, mich daran zu erinnern, meinen Blick immer wieder auf Jesus zu richten und mich auch immer wieder in seinen Blick zu stellen.

In unserer westlichen Kopffrömmigkeit empfinde ich diesen visuellen, sinnlichen und jahrhundertealten Zugang als sehr erfrischend und ich bin dankbar, diesem Schatz der christlichen Tradition begegnet zu sein! 

P.S.: Wem die Ästhetik traditioneller Ikonen nicht so zusagt, keine Angst. Es gibt, wie ich finde, auch Ikonen im zeitgenössischen Stil, z.B. von Scott Erickson.

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