«Ich habe den meisten Teil meines Lebens mit Üben verbracht.» An einem heißen Julitag saß ich in einem abgedunkelten Raum der Kunsthalle Mainz und hörte diesen Satz. Die Frau, die ihn formulierte, leuchtete vor mir in Überlebensgröße durch eine Projektion an der Wand auf; fasziniert hörte ich ihr zu, wie sie aus ihrem facettenreichen Leben als Sängerin erzählte.
Später finde ich heraus, dass es sich bei der älteren Dame um die britische Sängerin Bette Bright handelt. Der Musiker und Komponist Ari Benjamin Meyers porträtierte sie und drei weitere Musiker in «Four Liverpool Musicians» (2018).
Ihre Äußerung ging mir in den letzten Wochen nach und ich habe mich gefragt, ob ich das auch über mein Leben sagen würde. Nun kann ich natürlich auf weniger Lebensjahre zurückschauen und bin auch keine professionelle Sängerin. Aber ich merke, dass mich diese Aussagen auf einer anderen, abstrakten Ebene bewegt. Vielleicht meinte sie damit ja nicht nur ihr musikalisches Üben, sondern das Leben allgemein? Was macht es mit mir, wenn ich alles, was ich tue, als Übung betrachte?
Der Gedanke des «Leben-Übens» hat mich den Sommer und Herbst über begleitet. Dabei bin ich der Spur des Theologen John Mark Comer gefolgt, der mit der Bewegung «Practicing the Way» in manchen christlichen Kreisen gerade sehr präsent ist und mancherorts einen echten Hype erlebt. Kerngedanken des Ganzen ist folgender: Wir alle sind damit beschäftigt, unser Leben irgendwie auf die Reihe zu bekommen und suchen dazu Anleitungen, Ratgeber, Tipps. Jesus, der in der Bibel als Rabbi (hebräisch für Lehrer) bezeichnet wird, lädt Menschen ein, Leben von ihm zu lernen.
Lernen tut man durch Übung.
Glücklicherweise kennt die christliche Tradition eine Vielzahl geistlicher Übungen, die sich über die Jahrhunderte bewährt haben: Gemeinschaft, Sabbat, Gebet, Stille, Fasten und noch einige mehr. Einfach mal googlen. In diesem Zusammenhang begegnet man eventuell dem Wort «Exerzitien», welches vom lateinischen «ex-ercere» kommt, und nichts mit einem Exorzismus zu tun hat. Stattdessen bedeutet es so viel wie «üben, einüben, trainieren, sich mit etwas intensiv beschäftigen», um schließlich mit der Zeit an einen Punkt zu kommen, dass man mit einer gewissen Selbstsicherheit «etwas handhaben, bearbeiten, nutzen» kann.
Ich entdecke einige Parallelen zwischen den Übungsstunden an Stimme, Instrument oder im Skizzenbuch und dem geistlichen Leben.
Beides beruht auf Regelmäßigkeit, beides muss man tatsächlich tun und kann nicht einfach nur darüber lesen (dann weiß man es zwar, aber kann es noch nicht), beides braucht seine Zeit, um sich zu entwickeln, beides dient einem anderen Zweck.
Das Ziel der Musikerin ist nicht, ihr Leben lang an bestimmten Techniken zu feilen, ihr Ziel ist es, auf Bühnen vor Menschen zu spielen. Der Maler fertigt keine Skizze um der Skizze Willen an, sondern nutzt sie als Übungs- und Kompositionsfeld für sein Gemälde. Als Christin ist es nicht mein Ziel, die beste Beterin zu werden oder am längsten fasten zu können. Es ist auch nicht relevant, was ich alles weiß und was ich irgendwo gelesen habe, wenn es mich nicht näher an mein Ziel bringt. Mein Ziel ist es, in Gemeinschaft mit Jesus zu leben, ihm ähnlicher zu werden und das bedeutet, Gott und die Menschen mehr zu lieben. Ich erlebe, wie mir geistliche Übungen wie Beten, Stille und in der Bibel lesen (und ja, hierzu gehört auch manchmal, dass ich Texterklärungen studiere oder mich intensiver mit einem Thema beschäftige) dabei helfen, aber sie sind nie Selbstzweck an sich.
Bei allen geistlichen Übungen geht es um das Einüben eines Lebensstils, bei dem ich mir der Liebe Gottes dauerhaft bewusst bin und sie weitergebe.
Übungen helfen mir, meine Aufmerksamkeit zu schulen, die dann nach und nach mein ganzes Leben durchziehen darf. Damit wird mein ganzer Alltag zu einer geistlichen Übung. So wünsche ich mir, dass ich Bette Brights Äußerung in einigen Jahren zustimmen und auch sagen kann: «Ich habe den meisten Teil meines Lebens mit Üben verbracht.»