Mich faszinieren Studien, die mit einer Frage beginnen, Antworten darauf suchen und auf dem Weg dorthin per Zufall die Antwort auf eine völlig andere Frage finden. Das scheint nicht selten der Fall zu sein. So auch beim amerikanischen Arzt und Professor für Psychiatrie Thomas Boyce. Er sammelte in den späten 80er Jahren in Kalifornien wissenschaftliche Daten zur Frage, wie der Stress des Schuleintritts das Immunsystem von Kindern beeinträchtigt, als plötzlich die Erde bebte. Die Studie konnte nicht durchgeführt werden. Aber es wurde eine neue Frage gestellt, die die Katastrophe inkludierte. Alle Kinder bekamen ein Päckchen Buntstifte und Papier mit der Aufforderung, ein Bild vom Erdbeben zu malen. Die einen malten heitere, positive Bilder der Katastrophe. Die anderen stellten eher die furchtbaren Aspekte des Erdbebens dar. Wer gehörte wohl zu den Immunsystem-Gewinnerinnen, wer zu den Verlierern? In den Monaten nach dem Unglück litten die Kinder, die fröhlich, optimistische Bilder vom Erdbeben malten, deutlich häufiger unter Erkrankungen der Atemwege als jene, die Angst, Feuer, Tod und Katastrophe gemalt hatten.
Thomas Boyce ist der Ansicht, dass das menschliche Geschichtenerzählen und die Kunst, die sich durch die ganze Geschichte zieht, ein Weg sind, auf dem wir uns die Dinge, vor denen wir uns fürchten, zu eigen machen.
Wenn wir die eigene Hoffnungslosigkeit, all die Ängste, die Verzweiflung oder die Wut in welcher Art und Weise auch immer «zu Papier bringen», stärkt das unser Immunsystem. Die Tragödien des Lebens zu «verkunsten» macht gesund. Blinder Optimismus hingegen nicht.
Ich sitze mit dreißig anderen Leuten in einem Wohnzimmerkonzert. Vor dem vierten Song setzt die Singer-Songwriterin zu einer langen Entschuldigung aka Songansage an. Der nächste Song sei halt leider wieder eher melancholisch. Sie versuche ja immer wieder, Heiteres zu schreiben. Oft lande sie aber irgendwie doch wieder bei ihrem eigenen Schmerz über eine Sache. Ihre Klänge und Geschichten sind von süßer Traurigkeit gefärbt. Nicht schlimm, will ich ihr sagen. Du gehörst nur einfach zu der Gruppe, die nach dem Erdbeben das Fürchterliche aufs Papier malt. Für deinen fein eingestellten Seismografen in dir brauchst du dich nicht zu entschuldigen. Und im Übrigen profitiert nicht nur dein Publikum von deiner Umwandlungskunst, sondern auch dein Immunsystem. Weil: Je intensiver wir uns in Bezug auf üble Dinge ausdrücken, desto weniger Angst machen sie uns allmählich. Wir drücken unsere Traurigkeit aus, weil sie jedes Mal, wenn wir dies tun, ein bisschen kleiner wird. Das wussten wohl schon die Dichter zu biblischen Zeiten. Ohne entschuldigende Ansage packten sie ihr Innenleben in ihre Gedichte und Lieder. Aus Psalm 13 und 31:
«Wie lange noch, Herr, willst du mich vergessen? Etwa für immer? Wie lange noch muss ich unter tiefer Traurigkeit leiden und den ganzen Tag Kummer in meinem Herzen tragen?»
«… Noch bin ich in großer Bedrängnis, sind meine Augen trüb vor Traurigkeit, erschöpft bin ich an Leib und Seele.»
Für alle Frohnaturen unter uns, die mit so viel Drama so gar nichts anfangen können, noch ein relativierendes Zitat vom Schriftsteller Frank Schätzing aus seinem Gespräch im Podcast Hotel Matze:
«Kunst entsteht immer aus großer Freude oder grossem Leid oder irgendwas dazwischen. Aber sie entsteht nie aus Gleichgültigkeit.»
Darauf können wir uns wohl einigen. So oder so. Egal ob Dystopie oder Komödie – mach dir die Dinge zu eigen. Verkunsten, das Zeug!