«Bin ich tot?» «Ja.» «War ich ein Mann?» «Ja.» «War ich ein Politiker?» «Nein.» Mist, der Nächste ist dran.
In geselliger Runde verbringe ich den Silvesterabend bei meiner Oma. Das Glas vor mir auf dem Tisch ist mit einem leichten Weißwein gefüllt, der Teller üppig belegt mit Oliven, gebratenen Auberginen, italienischer Salami, Büffel-Camembert und ein paar Scheiben Weißbrot. Um den großen Tisch versammelt sich eine heitere Feiergemeinschaft zwischen 18 und 83 Jahren. Ich bin wieder dran und rate weiter: «Habe ich im letzten Jahrhundert gelebt?» «Ja.» «Habe ich unter den Nationalsozialisten gelitten?» «Auch richtig.» «Bin ich Dietrich Bonhoeffer?» «Nein.» Schade, denke ich, Bonhoeffer gehört für mich irgendwie zum Jahreswechsel dazu.
Dietrich Bonhoeffer – intellektueller Überflieger, Pfarrer, Glaubensvorbild, Heiliger, Widerstandskämpfer. Es gibt viele Bezeichnungen für den Mann, aus dessen Feder das Gedicht «Von Guten Mächten» stammt. Und immer wieder sind es genau die Zeilen vom Jahreswechsel 1944/45, die mich bewegen und trösten. Mehrfach wurde es vertont, es gilt als eins der beliebtesten Kirchenlieder und auch ich summe an diesem Abend immer wieder die eingängige Melodie. Dabei sieht mein Silvester im Jahr 2024 sehr anders aus als das des Theologen 80 Jahre zuvor: Er sitzt zu diesem Zeitpunkt seit mehr als einem Jahr in Haft. Als Teil eines Widerstandsnetzwerkes ist er verantwortlich für mehrere gescheiterte Attentate auf Hitler, als Mitglied der Bekennenden Kirche bildete er zwischen 1935 und 1937 in Finkenwalde angehende Pfarrer aus. Getrennt von seiner Familie und seinen Freunden, alleine in einer kalten Zelle, mit kargen Mahlzeiten schrieb er zum Jahreswechsel diese tröstlichen Zeilen:
«Von guten Mächten treu und still umgeben,
behütet und getröstet wunderbar,
so will ich diese Tage mit euch leben
und mit euch gehen in ein neues Jahr.»
Ein Gedicht, das Menschen jeder Generation trifft; Worte, die Trost und Hoffnung spenden. Vielleicht gerade weil sie von einem Mann in einer Situation geschrieben wurden, die von außen so trostlos und hoffnungslos schien, dass sie dadurch nur noch mehr Kraft haben? Ein Gedicht, das von Bonhoeffers Unverzagtheit und Zuversicht zeugt, das erzählt, wie tief sein Gottvertrauen und wie groß seine Hoffnung waren. Auch seine weiteren Briefe aus dieser Zeit lassen mich immer wieder staunen und machen mir Mut, die Schönheit auch in der Dunkelheit nicht aus dem Blick zu verlieren.
Für Bonhoeffer war es die Hinwendung zum Gott des Christentums, die ihn fröhlich blieben ließ und die in diesen kunstvollen Zeilen Ausdruck fand. Das imponiert mir und ich frage mich, wie mein Neujahrsgedicht wohl klingt.
Zwar lassen sich meine heutigen Herausforderungen nicht mit denen vergleichen, denen Bonhoeffer ausgesetzt war, doch bin ich auch heute gefordert, mich mit den großen Themen unserer Zeit verantwortungsvoll zu beschäftigen.
Ich frage mich, wie auch ich von dieser Hoffnung und Zuversicht schreiben kann. Woher nehme ich den Mut, wenn mir die innenpolitische Lage Angst macht? Wenn mich die gesellschaftlichen Differenzen verunsichern? Wenn die Zukunftsängste der Menschen um mich herum auch mein Herz schwer machen?
Das Leben von Menschen wie Dietrich Bonhoeffer macht mir Mut, den Ängsten zu trotzen und mit Zuversicht auch 2025 anzugehen. Ein passendes Neujahrsgedicht steht noch aus, aber so schön, wie Bonhoeffers Zeilen wird es wohl nicht, darum, auch als Zuspruch für 2025:
«Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.»