Mit Michelangelo durchs Konklave

Irgendwie hat’s die Kunstwelt verschlafen: Michelangelo hätte dieses Jahr seinen 550. Geburtstag gefeiert. Das war am 6. März. Genau zwei Monate und einen Tag später schaut aber die ganze Welt nach Rom. Am 7. Mai startete das Konklave zur Papstwahl. Hunderttausende vor Ort, Millionen per Fernsehen und Social Media, alle schauen nach Rom. Und kaum jemand hat’s gemerkt, aber alle wichtigen Schritte der Papstwahl werden von Werken Michelangelos begleitet. Und die haben es ganz schön in sich.

Das Konklave beginnt in der Cappella Paolina. Dort wird zum Beginn jedes neuen Wahltages Messe gefeiert, Gottesdienst. Die Kardinäle sitzen unter zwei riesigen Bildern Michelangelos: auf der einen Seite die Kreuzigung des Petrus und auf der anderen Seite die Berufung des Paulus, die beiden großen Leiterpersönlichkeiten der frühen Kirche. Michelangelo war da 75, als er diese unglaublichen 6x6m großen Fresken beendet hatte und er war längst eine so unantastbare Autorität geworden, dass er absolut freie Hand hatte, was er da darstellte.

Und was stellt Michelangelo dort den Kardinälen vor Augen? Die Kreuzigung des ersten Papstes.

Petrus eben nicht in dem tollen Augenblick, als Jesus ihn zum Leiter der Kirche einsetzt, sondern sein Ende, die Kreuzigung. Und dann, wie er das darstellt! Mit letzter Kraft hebt Petrus, der grad kopfüber aufs Kreuz genagelt wird, nochmal seinen Kopf und schaut in den Raum hinein. Und dann dieser Blick! Petrus durchbohrt die Kardinäle quasi, die da im Raum sitzen und gleich seinen Nachfolger wählen, unglaublich eindringlich. Ein Blick wie ein letztes Testament: «Seid euch bewusst, was auf einen neuen Papst zukommt! Nicht Ruhm und Ehre, sondern Jesus-Nachfolge bis zum Äußersten. Vielleicht bis zum Tod!» Und das war zu Michelangelos Zeiten gar keine überzogene Theatralik: Fünfzehn Jahre vorher wüteten die Habsburger Söldner in Rom und der Papst musste fliehen, um sein Leben zu retten.

Und auf der gegenüberliegenden Seite, Paulus. Wieder so’n Blick. Eindringlich, aber ganz anders. Das Fresko zeigt die erste Begegnung von Paulus mit Jesus. Wie der Blitz trifft ihn Gottes Gegenwart, haut ihn vom Pferd, lässt ihn blind und hilflos um sich tasten. Seine Arme und die blind gewordenen Augen richten sich zum Himmel, bis ihm jemand aufhilft. Diese blindgewordenen Augen, die sagen irgendwie alles! Jesus hatte diesen Eiferer völlig gegen die Wand laufen lassen. Bis hierhin war Paulus voller Kraft und Autorität im Einsatz. Hatte gekämpft, für Gott, aber eben völlig nach seinen eigenen Vorstellungen. Er hatte Christen verfolgt, war über Leichen gegangen. Und das alles stoppt Jesus in diesem Augenblick brachial. Die Verwandlung, die an diesem Tiefpunkt einsetzt, die Saulus zum Paulus macht, die war die Voraussetzung, dass dieser Mensch überhaupt seine Rolle als Kirchenleiter im Sinne Gottes einnehmen konnte.

Hilflos tastend nach Gott suchen. Das ist der Kirchenführer, den Michelangelo den Kardinälen vor der Papstwahl vor die Augen stellt. Und das seit 500 Jahren.

Selbst in der Übertragung vom 7. Mai sieht man, wie die Kardinäle kurz und verstohlen aufblicken und in Petrus’ mahnende oder Paulus’ geschlossen Augen schauen. Wie muss das erst zu Michelangelos Zeiten gewirkt haben? Da fand die Wahl wirklich in dieser Capella Paolina statt und das in diesen wilden Zeiten der Renaissance. Mit ihren Päpste, die eher für Prunk und Party und Skandale, für Kriege und Bankgeschäfte berühmt waren? Und hier: Schmerz, Tod, Leiden, Hilflosigkeit, Hilfebedürftigkeit, um für Gott überhaupt einsetzbar zu sein. Und das ist nur der Auftakt zum Konklave. Nach der Messe in dieser Capella Paolina geht es nur wenige Schritte weiter in die viel größere Sixtinische Kapelle. Hier wo dann gewählt wird. Und wieder ist Michelangelo präsent: Gleich doppelt.

Da ist zum einen das Deckengemälde, das berühmte Deckengemälde der Sixtinischen Kapelle und es zeigt den Anfang der Bibel: Die Erschaffung der Welt bis hin zu Noah. Und unter dem Bild von Noah betreten die Kardinäle die Kirche. Von Noah heißt es ja, er ist der Einzige, der noch zu Gott hielt und darum wollte Gott ihn und seine Familie vor der Sintflut retten und mit ihm den Neuanfang in Sachen Menschheit starten.

Aber Michelangelo zeigt nicht etwa den Helden, der sagt: «Schau, wie toll ich bin, mich hat Gott erwählt!». Ganz im Gegenteil: Noah liegt da völlig betrunken am Boden. Hilflos.

Die Bibel erzählt, dass Noah der Erste war, der Wein anbaute, aber er konnte mit diesem Neuen noch gar nicht umgehen. Und jetzt liegt er da … besoffen, wird verlacht, braucht Hilfe. Das zeigt Michelangelo.

Und es geht weiter: Über den einziehenden Kardinälen wird der Film quasi wie zurück gedreht, über die Sintflut, Sündenfall, über die Erschaffung von Eva und Adam, bis ganz an den Anfang, als Gott das Licht von der Dunkelheit trennt und die Welt schafft. Und falls die Kardinäle beim Einzug nicht nach oben, sondern einfach nur nach vorn schauen, was sehen sie da? Noch mal Michelangelo, 200m² groß: Das Jüngste Gericht. Da wird auch getrennt. Noch so ein Faustschlag! Nichts nettes … Kein Halleluja mit Engelchor und sanftem Heiligenschein. Es gibt sogar Aufzeichnungen, die belegen, dass eigentlich eine Auferstehungsszene dort vorgesehen war. Also eher Triumph und Gloria und Jesus besiegt den Tod usw. Aber das war nicht die Vorstellung von Michelangelo für diesem Ort. Er zeigt Jesus, ja, auch als Auferstanden, aber als Auferstandenen, der am Ende zum Gericht wieder kommt! Voller Kraft und … ja, ist das Zorn, heiliger Zorn? Auf jeden Fall voller Energie: Das ist Jesus, der endgültig Ordnung bringt in das Chaos dieser Welt. Das ist kein Kuschelgott! Aber ein Richter, dem man nichts vormachen kann und der Recht schaffen wird am Ende.

Wen wundert’s, dass sich, noch zu Michelangelos Lebzeiten, eine ganze Konzils-Sitzung mit diesem Bild beschäftigte. Aber es blieb.

Vor diesem Bild von Jesus, dem man nichts vormachen kann, bis ans Ende der Tage, gelobt seit Jahrhunderten jeder Kardinal einzeln, dass er besten Wissens und Gewissens denjenigen aufgeschrieben hat, den er für den geeignetsten neuen Papst hält, und dann legt er seinen Stimmzettel in die Wahlurne.

Wow, das ist mehr als Kirchendeko!

Wie kam Michelangelo auf diese krassen Bilder, die einem so völlig gegen den Strich gehen, aber so voller theologischer Einsicht sind? Deren kirchenkritische Dimensionen sich einem erst so richtig im Kontext des Ortes und der Funktion erschließen? Michelangelo hatte ein sehr langes und sehr bewegtes Leben in einer Zeit voller Umbrüche, Kriege, Neuanfänge. Die Entdeckung Amerikas, die Renaissance, Luther’s Reformation, die Bänker-Dynastien von den Fuggern bis zu den Medici, die Osmanen vor Wien und die Habsburger vor Rom … Chaos pur. 1529, da war er 44 Jahren, musste er aus seiner eigenen Heimatstadt Florenz fliehen, und er kam nach Venedig und er fand Unterschlupf bei Antonio Brucioli. Der war gerade dabei, die Bibel in die Volkssprache zu übersetzen. Angeregt durch Martin Luther, der das wenige Jahre vorher auch gemacht hatte.

Kurze Zeit drauf machte Michelangelo Bekanntschaft mit einer besonderen Frau: Vittoria Colonna. Sie stammte aus höchstem, altrömischen Adel und war auch als Schriftstellerin berühmt. Sie beschäftigte sich ganz intensiv, und natürlich streng geheim, mit den Gedanken der Reformation, den großen Themen Luthers: Was heißt eigentlich «Allein durch Christus, allein durch Gnade kann man mit Gott leben»? Sie sammelte Gleichgesinnte um sich: Kardinäle, Adlige, Künstler und eben auch Michelangelo. Die beiden tauschten Gedichte und Bilder und vor allem Gedanken aus. Und das schärfte Michelangelos Blick für seine Zeit und Gottes Wirken darin. Das spürt man seinen Bildern ab. Das «Jüngste Gericht» began er nur kurz drauf, nach dieser nach dieser ersten Begegnung mit Vittoria Colonna.

Unglaublich, was ein Künstler, der am Puls Gottes und am Puls seiner Zeit ist, gegen alles, was ihm der Mainstream so zu spülte, bis heute für einen Wirkung haben kann.

Und wem das vielleicht alles ein bisschen zu ernst ist, zu viel Gericht, zu viel Mahnung, den tröstet vielleicht die Tatsache, dass die Tausenden von Menschen, die vor dem Petersdom auf den weißen Rauch warten, auch auf einen Michelangelo schauen, den Größten überhaupt, über 130 Meter hoch: Die Kuppel von St. Peter, wie sie sich in ihrer formvollendeten-würdevollen Schönheit zeigt. Kuppeln strahlen ja so eine Geborgenheit aus und vermitteln ein Gefühl von Behütet sein. Bis heute ist sie weltweit die größte freitragende Kuppel aus Ziegelsteinen. Er hat sie zwar selber nicht mehr vollenden können, aber sie wurde nach seinen Plänen fertiggestellt.

Well done, Michelangelo! Und Happy Birthday!

 

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