Unser Leben teilt sich mit – auch ohne Worte. Es spricht durch unzählige Sinneseindrücke und Reize. Der französische Schriftsteller Marcel Proust sagte einmal:
«Eine Stunde ist nicht nur eine Stunde; sie ist ein mit Düften, mit Tönen, mit Plänen und Klimaten angefülltes Gefäß. Was wir die Wirklichkeit nennen, ist eine bestimmte Beziehung zwischen Empfindungen und Erinnerungen.»
Schon bevor wir sprechen lernen, spüren wir Stimmung, Nähe und Distanz. Wir reagieren auf Farben, Geräusche und überleben durch Impulse wie Hunger oder Müdigkeit. Auf manche Reize reagieren wir weltweit ähnlich: mit Trauer, Ekel, Angst, Freude, Wut oder Überraschung. Andere verarbeiten wir individuell – geprägt von Erinnerungen und Erziehung.
Kinder etwa können noch nicht wirklich hassen, da Hass eine komplexe Emotion ist, die sich erst langsam durch negative Erfahrungen und soziales Umfeld entwickelt. All dies geschieht über die Steuerzentrale unserer Sinne – vom Reiz über die Emotion bis zur Reaktion. Der Fragensteller Tobi Krell (auch bekannt als «Checker Tobi») hat eine empfehlenswerte Doku veröffentlicht: «Wege aus dem Hass». Er reist durch Krisenregionen und stellt sich die Frage: «Wann und warum beginnen Menschen zu hassen?»
In der Vorbereitung zu einem Workshop zum Thema «Sinn(e) schärfen – Sinn stärken» fragte ich mich, wie denn das Gegenteil von Hass aussieht: «Wie sieht dieses große Ding namens Liebe aus, und wo können wir sie selbst erfahren und weitergeben?» Dabei stieß ich auf einen Text aus der Bibel, der sich in weltweit krisengebeutelten Zeiten wie diesen wie der absolute Endgegner anfühlt – der jedoch auf der guten Seite steht und zu dem man am Ende gehören möchte. Lies ihn mal bewusst mit Augenmerk auf deine Sinne.
«Die Liebe hat den langen Atem, gütig ist die Liebe, sie ereifert sich nicht. Die Liebe prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf, sie ist nicht taktlos, sie sucht nicht das ihre. Die Liebe ist nicht reizbar, sie rechnet das Böse nicht an, sie freut sich nicht über das Unrecht, sie freut sich an der Wahrheit. Sie trägt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie erduldet alles. Die Liebe kommt niemals zu Fall (…).» (1. Korinther 13, 4-7, Zürcher Übersetzung)
Dieser Text spricht direkt und indirekt alle Sinne an und verdeutlicht etwa, wie Nähe und Distanz weise eingeschätzt werden.
Er erzählt uns davon, wie wir taktvoll handeln, indem wir die Grenzen des Gegenübers erspüren. Wir brauchen dafür tatsächlich unseren Bewegungs- und Gehörsinn, da sie uns beim Austarieren von Distanzen behilflich sind. Oder zum Beispiel die Aussage «Die Liebe bläht sich nicht auf (…)» spielt darauf an, dass man dem Anderen aus Liebe auch bewusst Raum gibt und nicht auf unangemessene Weise zu viel Raum einnimmt. Eindrücklich finde ich auch den folgenden Vers: «Die Liebe hat den langen Atem». Er zeigt mir, dass Ausdauer und Geduld für eine Sache oder eine Person hier gekoppelt sind an einen «langen Atem». Nase, Mund, Lunge und Herz sind hier indirekt mit dem «Atmen» angesprochen und tatsächlich hilft uns tiefes, bewusstes Durchatmen dabei, unsere Sinne zu regulieren. Und gerade dann, wenn wir drohen, ungeduldig und forsch zu werden, können wir mit so etwas simplem wie tiefem Durchatmen unsere Toleranzspanne noch ein kleines Stück mehr erweitern. Ja, die Welt da draußen kann uns täglich mit Reizen überfluten. Aber in dieser Liebeserklärung an die Liebe steckt auch, dass eben diese Liebe nicht reizbar ist. Am Ende heißt es sogar: «Diese Liebe kommt durch nichts zu Fall.» Friedenskiller aufgepasst: Wo diese Liebe auftaucht, könnt ihr einpacken!
Und wie geht das jetzt im Alltag? Wie wird diese Liebe mit Hilfe unserer Sinneseindrücke und Körperwahrnehmungen greifbar?
Mir persönlich hilft folgendes Bild dabei: Zwischen Reiz und Reaktion liegen nur 0,14 bis 0,30 Sekunden. Stell dir vor, genau in dieser Spanne befindet sich dein «Garten Eden der Sinne», ein geschützter innerer Ort, den du jederzeit betreten kannst.
Ein nonverbaler, wohltuender, aber auch kultivierter Ort, in dem deine Reize wie eine Art «Kurzurlaub» erleben, um besser im Sinne der Liebe reagieren zu können. Diese Spanne nennt man auch die «Reiz-Reaktions-Pause oder Spannungstoleranz». Ich nenne sie gern die «Eden-in-Emotion»-Pause. Wir können hier lernen, Abstand zu schaffen zwischen Reiz und Reaktion und uns eine Mini-Verschnaufpause gönnen, nachfragen, innehalten, wahrnehmen, wie es dem Gegenüber wirklich geht. Die «Eden-in-Emotion»-Pause gibt mir Gelegenheit, mitten im Streit etwas Wertschätzendes zu sagen oder auch einen Schritt zurückzutreten, tief durchzuatmen und meine Haltung zu prüfen: Bin ich gerade im Angriffs- oder Verteidigungs-Modus? Manchmal dauert diese Pause auch 8 Stunden, weil man erstmal eine Nacht drüber schlafen muss. In diesem inneren Garten Eden dürfen wir uns von 1. Korinther 13 erinnern lassen, wozu diese Liebe in der Lage ist.
Und? Heute schon einen Hauch «Eden in Emotion» erlebt oder jemand anderem entgegengebracht?