Es ist still im Raum. Nur das Kratzen und Gleiten von Bleistiften und Kugelschreibern auf Papier ist zu hören. Knapp zwanzig Workshopteilnehmende schreiben einen Beschwerdebrief. Adressat: Gott. Eigene Empörung Richtung Himmel schleudern – auch bekannt unter dem Genre «Klagepsalmen». Ganz zum Schluss des Workshops werden einzelne Fragmente in der Gruppe geteilt.
«Du Verborgener, Ungreifbarer»
«Sieh, wie die echten Dinge auf der Strecke bleiben!»
«Wieso sind die Menschen so gierig?»
«Manchmal kann ich nicht mehr.»
«Bitte tu etwas!»
Der Workshop steht am Anfang eines zweitägigen Festivals, das sich das zuversichtliche Motto «Alles wird gut» gegeben hat. Erfrischend antizyklisch, dass wir in der ersten Stunde danach fragen, was hilft, wenn gerade nicht alles gut ist. Man sagt «Not lehrt beten» und «aus Kummer entstehen die schönsten Lieder». Was nützt Gebet, was bringt Kunst, wenn sich eine Situation nicht ändern lässt, wenn wir humpeln oder gar verwundet am Wegrand liegen? Ausgehend von diesen Fragen landen wir bei den Psalmen, der größten geistlichen Liederschatzkammer der Menschheit, die Raum für alle denkbaren Lebenserfahrungen öffnet. Gebete und Kunst zugleich. Dauerbrenner, deren Worte Menschen über viele Generationen, ja über Jahrtausende hinweg berührt haben. Denn Leid wird heute nicht anders empfunden, wie vor Jahrtausenden. Erleben wir Schweres, Existenzielles, Intensives, fragen wir instinktiv danach, ob irgendjemand je gleich gefühlt hat. Wir finden uns mit unseren Empfindungen in einem Lied wieder, sind dann zwar immer noch geknickt, aber spüren, dass wir gehalten sind. Die Psalmen sind, was die Dichterin Nelly Sachs in einem Gedicht über David «Nachtherbergen für die Wegwunden» genannt hat.
Klagen führt uns aus dem zermürbenden Selbstgespräch hin zu einem Dialog. Zum Gebet, wenn man so will. Die Psalmisten bringen die ganze Palette menschlicher Abgründe schonungslos zur Sprache. Sie fragen nicht danach, ob sich das gehört. Ich bin sehr gut darin, einen grossen Ablenkungsbogen um das Unangenehme zu machen. Nur doof, dass ich eigentlich weiss, dass es keine Abkürzung gibt, wenn ich bei der Hoffnung landen will. Zu klagen, mich bewusst und lautstark an Gott zu wenden, Brüche zu betrauern, mit denen zu weinen, die weinen, ist unumgänglich auf dem Weg dorthin.
How long, will You turn Your face away?
How long, do You hear us when we pray?
On and on, still we walk this pilgrim way
How long?
How long, till your children find their rest?
How long, till you draw them to Your breast?
We go on, holding to your promises
How long?
«The Porters’s Gate» – ein amerikanisches Kollektiv von Musikerinnen und Musikern— hat vor einigen Jahren ein ganzes Album mit dem Titel «Lament Songs» veröffentlicht. Eine wunderschöne Art, sich in die christliche Tradition einzureihen, die Zerbrochenheit der Welt, wie sie jetzt gerade spürbar ist, vor Gott zu tragen. Mir helfen sowohl die biblischen als auch die heutigen Klagepsalmen aus meiner Neigung zum Zynismus heraus zu einem ehrlichen Ausdruck zu finden. So steht es um die Welt. Es ist furchtbar. So steht es um mich. Manchmal halte ich mich selbst kaum aus. Und dann setze ich vorsichtig zuversichtlich mein Vertrauen auf Gott.
Fast alle Klagepsalmen haben krasse Stimmungsschwankungen. Sie beginnen depressiv verzweifelt und enden überschwänglich lobend. Über die erstaunlichen Wendungen haben Profis viel diskutiert. Vielleicht sind die Schlussteile erst nach einer erfahrenen Rettung entstanden. Vielleicht liegt in der Wende zur Zuversicht aber auch die Erfahrung, dass bereits im Prozess des Betens etwas Wichtiges geschieht: Ist all das Leid erstmal ausgedrückt und ausgebreitet, ist die Forderung an Gott, bitte endlich einzugreifen, platziert, wächst manchmal bereits die Hoffnung darauf, dass es gut werden wird, obwohl noch alles beim Alten ist.
How long?
Till You wipe away the tears from every eye
Till we see our home descending from the sky
Do we wait in vain?
Jesus, give us hope again